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Jarlower Geschichten


Diese Geschichten könnten sich so oder Anders, mit den benannten Beteiligten oder ganz Andren, an den besagten Orten oder ganz weit fort, zugetragen haben. Sie dienen der Inspiration, sollen ein Gefühl von Jarlow vermitteln, von den Eigenheiten, der Normalität und der Stimmung an verschiedenen Orten des Landes. Seid eingeladen, mitzuwirken und erschafft Jarlow in ganz neuer Tiefe!

Der Jarlower Kulturrat


Kurzgeschichtensammlung


Aus dem Leben einer Haushälterin
Aus dem Leben einer Haushälterin II
Aus dem Leben eines Kindermädchens
Aus dem Leben eines Werftarbeiters
Aus dem Leben eines Straßenjungen
Ein Abend unter Waisen - Aus den Memoiren eines Monseñore
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Glossar

Personen

Constanze Marino - Haushälterin und Anstandsdame in der Villa Rosa
Mariella Dimanta - Kindermädchen im Hause Panificadora
Fabrizio Tabera - Werftarbeiter Im Hafen Jarlow-Ciudad
Francesca Schivarone - Inhaberin und gute Seele des Gasthaus „Bajo la Mirada Atenta de Nuestra Durquesa“
Abril - Straßenjunge aus dem Armenviertel
Manuel und Miguel - Zwei Orphanitos der Padrina Leonora Castellanis aus Empinar El Codo
Silvio Harinero - Bäckermeister der Mohnbäckerei, Mann von Lucía
Sofía - ehemalige Orphanita der Leonora Castellani, nun Hausmädchen in der Casa Panificadora


Orte

Jarlow-Stadt - größte Stadt Jarlows
Casa Panificadora - Mehrstöckiges Wohnhaus am Marktplatz
Gasthaus “Bajo la Mirada Atenta de Nuestra Duquesa” - bekannte bodenständige Taverne am Markt
Villa Rosa - Wohnsitz einer prominenten Jarlower Persönlichkeit, am Rande Jarlow-Ciudads





Aus dem Leben einer Haushälterin


Zeit: Herbst 217 ndGFdB
Wichtige Personen: Constance Marino
Wichtige Orte: Villa Rosa

Blumen im Arm, den Henkelkorb mit Käse und Früchten gefüllt, außerdem ein paar Bögen Papier und eine winzige Schachtel Pralinen. Ein paar neue Gerüchte über anlegende Schiffe und deren mitgeführte Waren, über das Treiben auf und um dem Marktplatz. Eine Einladung zum Theaterbesuch, die wahrscheinlich von der Dame abgelehnt würde, da das Stück als vulgär galt. Dies fasste zusammen, was Constance Marino mit in die Villa Rosa am Stadtrand von Jarlow-Ciudad brachte, als sie vom Markt zurück in die Wohnung kam.
Den Korb stellte sie zunächst hinter die Tür auf die polierten Dielenbretter, legten den Blumenstrauß auf einer zierlichen, gold geschmückten Kommode ab und hielt gerade lange genug inne, um ihr alterndes Gesicht im Spiegel dahinter zu betrachten. Das wilde Leben in Jarlow-Stadt hatte sie früh zu zeichnen begonnen, doch selbst jetzt, nachdem sie sich seit einigen Jahren im glücklichen Ruhestand befand, könnte man unter den dünnen Falten und der farbenfrohen Schminke einen Rest verblichener Schönheit erkennen.
Constance nahm den Korb wieder auf, brachte ihn in die Küche im Erdgeschoss, ihr Hoheitsgebiet und Rückzugsraum, wo sie ihn endgültig abstellte und Papier und Pralinen entnahm. Von letzteren steckte sie eine in den Mund als sie eine Vase heraussuchte und mit dem Restwasser vom Morgen füllte. Sie würde gleich zum Brunnen gehen müssen. Einige Neubauten in der pulsierenden Stadt verfügten neuerdings über kupferne Rohrleitungen, die das Wasser in jeden Raum brachten. Aber an solche Spielereien war in diesem altehrwürdigen Sandsteinpalazzo nicht zu denken. Die Villa Rosa war eines der ältesten Gebäude der Stadt, und zu seiner Zeit mochte es eine Art Prachtbau gewesen sein. Inzwischen verfügte jedes halbwegs gute Haus der Stadt über einen Balkon und einen ummauerten Garten und auch die bleiverglasten Fenster waren nichts Besonderes mehr. Der etwas trutzige Baustil erinnerte an unruhigere Zeiten, von denen heute keiner mehr etwas wissen wollte. Die Rosenranken aber, die das ganze Gebäude umwuchsen, gaben dem Haus etwas Verzaubertes, Romantisches, wofür es von seinem Besitzer und dessen Untermieterin sehr geschätzt wurde.
Constance brachte Vase und Blumen in den Salon hinauf und richtete dort alles auf dem niedrigen Kaffeetisch an, der zu den neuesten Möbeln der Wohnung gehörte. Ein weiteres Einrichtungsstück welches die Tante von Constances Dame ausgewählt und angeschafft hatte, da sie es als ihre Pflicht ansah, die Nichte anständig aufzustellen.
Tante und Onkel hatten vor einigen Jahren auch beschlossen, dass jemand die Wohnung mit ihrer Nichte zu teilen hätte, wodurch Constance damals die Möglichkeit für Ihren Ruhestand erhalten hatte. Jetzt bewirtschaftete und bewohnte sie ein ganzes Haus, dessen zwei Bewohner allzu viel Zeit andernorts verbrachten. So war auch heute außer ihr selbst niemand zu Hause. Wäre sie noch jünger gewesen, hätte sie wohl bedauert, dass ihr die Räume nicht gehörten, dachte Constance als sie die Fenster öffnete und das Licht des Vormittags in die stillen Räume ließ. Ihr Leben war bunt und wild gewesen, ein Fest hatte das nächste gejagt. Die Dame, die die oberen Räume bewohnte, lud allenfalls ihre Cousinen zum Tee oder gemeinsamen Lesen ein, vom Hausherren im Erdgeschoss, ebenfalls ein Cousin der Dame, war nicht einmal das zu erwarten. Aber eben weil ihr eigenes Leben so laut und grell gewesen war, wusste Constance die Ruhe ihrer Herrschaft zu schätzen. Als sie die Etagen erneut wechselte, betrachtete sie ein weiteres Mal die Unterschiede in der Einrichtung der Räume.
Die untere Wohnung hatte einen würdigen, fast erdrückenden Stil mit dicken Teppichen, schweren Vorhängen und massiven, dunklen Möbeln. Hätte man nicht nachträglich große Glastüren zum Hof in die Hauswand eingelassen, wäre kaum Licht in die Räume gefallen, die sich dadurch aber eine angenehme Kühle bewahrten. Constance öffnete auch hier die Fenster und machte einen Umweg über die Küche, um Wassereimer und eine weitere Praline zu holen. Vom Brunnen im Hof aus sah sie die Vorhänge im Obergeschoss flattern. Die Dame legte mehr Wert auf moderne, filigrane Möbel, wenngleich sie die Vorliebe für schwere Rottöne mit ihrem Cousin teilte, weiterhin eine Liebe zu Blumen, die stets frisch in allen Räumen stehen mussten. Sonst aber gab es kaum Ähnlichkeit zwischen den Etagen. Die oberen Räume waren hell und freundlich, mit Spiegeln und Erinnerungsstücken verziert. Die Bücher der Dame verschwanden in den Kommoden und Schränken, um die Besucher nicht zu erschrecken, und die Wände hatte sie mit hellen Stoffbahnen bekleben lassen, die jedem Raum einen eigenen verspielten Charakter gaben.
Constance kehrte mit den Eimern in den Händen in ihre Küche zurück und setzte einen Kessel auf. Sie hatte drei Wochen Ruhe gehabt und das große Haus für sich. Sie hatte es gepflegt, die immer häufiger fallenden Blätter vom Hof gefegt, mit dem Hausmeister von nebenan getratscht und darüber gelacht, dass der biedere Mann früher wohl nie ein Wort mit ihr gewechselt hätte. Jetzt hatte eine Brieftaube die zeitnahe Ankunft eines der Hausbewohner angekündigt, nachdem der andere vor drei Wochen nach Miramar aufgebrochen war. Die Dame war seit dem Beginn des Sommers nicht mehr hier gewesen, selbst als ihre mitreisenden Familienangehörigen wieder in die Stadt zurückgekehrt waren. Constance hatte begonnen sich Sorgen zu machen, hing doch ihre Anstellung hier an dem Zustand, dass eine unverheiratete Dame nicht alleine leben sollte. Was also, wenn sie nicht mehr hier lebte? Oder sich der Rest des Zustands änderte? Bisher hatten sie nie darüber gesprochen, vielleicht war das mal nötig.
Als die Mittagszeit kam und die Hitze des scheidenden Sommers sich drückend auf die Bucht senkte, verdunkelte Constance die Räume wieder. Sie hatte den Vormittag über die Wohnung im Obergeschoss hergerichtet, Holz im Bad aufgeschichtet und Eimer um Eimer nach oben getragen. Manchmal wünschte sie, die Dame würde sich mehr Angestellte leisten. Dann würde nicht alles in ihrer Verantwortung liegen: Haushalten, Kochen, Einkaufen, Betten aufschütteln und Handtücher bereiten; außerdem der Dame Gesellschaft leisten, wenn es sonst niemand tat, sie auf ihren Spaziergängen begleiten und gelegentlich Botengänge und Besorgungen in der Stadt erledigen. Constance war innerhalb Jarlow-Stadts der stetige Schatten ihrer Dame, um sie vor aller Sittenlosigkeit zu bewahren. Warum man ihr die Stelle damals angeboten hatte, war Constance jedoch nie klar geworden. Tante und Onkel ihrer Dame waren ahnungslos ihrer früheren Lebensumstände gegenüber gewesen und die zahllosen Empfehlungsschreiben früherer Arbeitgeberinnen, die ihnen vorlagen, hatte Constance zuvor nie gesehen. Die zwei Cousins der Dame, Pepe und Rocco aber, welche Constance damals das Angebot unterbreitet hatten, hatten alles gewusst und sie war sich sicher, dass sie die Sache gemeinsam ausgeheckt hatten. Dennoch nahm Constance ihre Aufgabe in redlichem Rahmen ernst. Ihr Geld erhielt sie schließlich von Tante und Onkel Castellani.

Zum Nachmittag, Constance war im kühlen Arbeitszimmer des Hausherren eingeschlafen, fuhr ein schlichter Wagen vor das Haus und brachte das Reisegepäck der Dame. Der Fuhrknecht weckte sie mit lautem Klopfen am Portal. Verschlafen richtete Constance das Häubchen, welches sie vornehmlich aus modischen Zwecken trug, als um ihre rot gefärbten Locken zu bedecken. In Jarlow Ciudad galt es als fast sicheres Zeichen der Sittenlosigkeit, das Haar unbedeckt und die Röcke kurz zu tragen. Daran war zwar nichts verkehrtes, machte es den braven Töchtern der Bürgerschaft aber einfacher, sich von der mietbaren Gesellschaft abzuheben.
Die beiden schweren Reisetruhen, die der Fuhrknecht vom Hafen mitgebracht hatte, wären für Constance nicht die Treppe hochzutragen gewesen. Daher war sie sehr froh, dass der Knecht und sein Bursche ihr zur Hand gingen. Als beide im Obergeschoss standen, konnte sie sich erkundigen, was mit der Besitzerin der Truhen war und erfuhr, dass diese noch im Familienwohnsitz Halt gemacht hatte und erst zum Abend in das Haus heimkehren würde. Das ließ Constance genug Zeit, das Gepäck zu verräumen und so verabschiedete sie die neugierigen Herren, die sich an der räumlichen Ausstattung gar nicht sattsehen konnten. In einem anderen Haushalt hätte sie sich nun darum gesorgt, ob nicht die Freunde der Herren bald zu Besuch kämen, um zu sehen, wie wehrhaft denn zwei Frauen ihr Eigentum verteidigen konnten. Aber, so dachte Constance mit einem zufriedenen Lächeln, dies würde nie auf die Probe gestellt werden. Das Gelichter der Stadt wusste wohl, wer hier wohnte und was das bedeutete.
Als der Abend näher kam, entzündete Constance den Kamin in dem hinteren Raum des Obergeschosses, um die Unmengen Wasser für ein Bad zu erhitzen. Die Dame würde darin für die verbleibenden Stunden versinken. Während sie die löwenfüßige Wanne mit Tüchern auskleidete und die Vorhänge zuzog, die Bett und Bad trennten, dachte Constance über die Widersprüchlichkeiten ihrer Dame nach. Eine Frau mit eigentlich bescheidenen Ansprüchen, die dann in einzelne luxuriöse Ausschweifungen entglitten. Die offensichtliche Fähigkeit, anstrengende Reisen und einsame Expeditionen auf sich zu nehmen und die Notwendigkeit, zuhause von einer Gouvernante begleitet zu werden. Eine Liebe zur Schönheit der Dinge und Menschen, die dennoch nie über den praktischen Wert gehoben würde. So war die Wohnung hier am Strand zwar schön und die Einrichtung aufwendig, aber stand in keinem Verhältnis zu der dekadenten Ausstattung des Familienpalazzos in der Stadt oder dem Wohnsitz Pedro Castellanis, dem Onkel ihrer Dame. Gold an Möbeln hielt sie für Unsinn, an Pralinen fand sie hingegen großen Gefallen.
Mit diesem Gedanken kehrte Constance in ihre Küche zurück, sich noch eine der süßen Kostbarkeiten zu holen. Dadurch, dass sie auch dann ein Haushaltsgeld erhielt, wenn die Dame abwesend war, blieben genügend Kupfer dafür über, sich gelegentlich selbst einen Gefallen zu tun. Auf ihre alten Jahre hatte es das Schicksal doch sehr gut mit ihr gemeint. Anfangs war Constance bei der Art ihrer neuen Verpflichtung schrecklich nervös gewesen, wusste sie doch zu gut, was das wilde Leben in Jarlow Ciudad für eine junge Frau hergab; gerade, wenn diese das Hafenviertel nicht mied, wenn sie es vorzog zu Fuß zu gehen, statt einen Wagen zu nehmen. Wenn sie die Einladungen neugieriger Herren zu fragwürdiger Gesellschaft nicht rigoros ausschlug, sondern sogar gelegentlich förderte… - glücklicherweise nur soweit, dass sie am Ende doch absagte oder in Begleitung einer ihrer Brüder einen Kurzbesuch abstattete. Es war selten, dass die Dame sich auf die Verlockungen dieser Stadt, die fast allein für den Genuss ihrer Anwohner und zahllosen Besucher zu existieren schien, einließ. Diese Erkenntnis hatte Constance die Nervosität genommen. Und immerhin war sie so als Begleiterin in einigen sonst unbezahlbaren Theateraufführungen und unzugänglichen Abendgesellschaften gewesen. Da hätte es sie nun auch schlechter treffen können.

Nachdem die Sonne lange untergegangen war und die wenigen wirklich anständigen Bürger der Stadt ihre Türen schon verschlossen hatten, zu der Zeit, da die Fensterer ihre Jagd begannen und die Seefahrer und Reisenden das Hafenviertel in eine tosende Festmeile verwandelten, war die Dame endlich heimgekommen. Constance hatte den Wagen auf dem Kies der Straße gehört und erleichtert aufgeatmet. Aus der Reisekleidung geschüttelt, hatte sie die müde Frau in die Badewanne gesteckt und stand nun auf dem Balkon, um die nach Salz und Meer riechenden Schuhe auszuklopfen. Die Festungsinsel, auf die ihr Blick über den Fluss fiel, war im Vergleich zu der pulsierenden Stadt nur spärlich erleuchtet. In den Zollschleusen war Ruhe eingekehrt, in der Dunkelheit passierten keine Schiffe mehr die Stationen um ins Binnenland vorzudringen. In regelmäßigen Abständen erhellte das Licht des Leuchtturms die Zinnen der Festung und die enge Bebauung auf der anderen Flussseite, deren erbärmlicher Anblick glücklicherweise durch das mächtige Gefängnis in der Mitte des Gewässers blockiert wurde. Erst bei Tageslicht würde man die grünen Hügel dahinter erblicken können, so man sich von der weiten Flussmündung des Shuran ins Meer abwandte.
Als Constance in die Wohnung zurückkam, hatte sich die Dame schon aus dem Wasser in ihr Bett verkrochen. Die nassen Haare breiteten sich über den Kissen aus - sie morgen zu entwirren würde eine Qual werden. Das Feuer hatte ihre Dame schon abgedeckt und ihre nassen Fußtapsen mit Tüchern beworfen, um den Boden zu schonen. Oder um sie einfach irgendwo zu verteilen, da war sich Constance nicht ganz sicher. „Bonna notte, Señorina“, sagte sie leise im Dialekt Jarlow-Ciudads und wurde mit einem zustimmenden Seufzen aus einem Berg Kissen und Decken belohnt.


„Constance, ich bekomme den Ofen nicht an“, hörte sie, erwachte und hasste es. Wenn die Dame von einer ihrer Reisen zurückkam, brauchte es jedesmal Wochen, bis sich alles wieder normalisierte. Bis dahin stand das Fräulein zu Unzeiten am Morgen auf, versuchte bei der Hausarbeit zu helfen und brachte fortlaufend Ideen an, wie man dies oder jenes ändern und verbessern könne. Zum Glück war der Spuk bald vorbei und die Dame gab das Kommando im Haus wieder an die Angestellte ab und wurde wieder zum friedlichen Einwohner.
„Ich kümmere mich darum, Señorina. Bitte warte hier oben, ich bringe den Kaffee. Und lass bitte den Kamin im Salon aus!“, ächzte Constance und schälte sich aus dem Bett. In ihrer schlichten Kammer neben der Treppe im Obergeschoss stand die Besitzerin der oberen Wohnung, die Haare in einem wahllosen Knoten zerzaust, das weiße Nachthemd ebenso wie die Hände mit Ruß und Asche beschmiert. Sie hatte sich nichtmal die Mühe gemacht Pantoffeln anzuziehen, stellte Constance kopfschüttelnd fest. „Bitte, Señorina“, sagte sie und schob den Gast aus ihrer Kammer, „zieh dir etwas über.“

Der Rest des Morgens verlief emsig. Nach dem gewohnt mageren Frühstück mussten die von der Seereise und dem gestrigen Bad verknoteten Haare entwirrt werden. Sie hatten viel Zeit damit vergeudet, doch nachdem Constance dann das Überleben des Zopfes sichergestellt und sich belanglose Geschichten über die Seefahrer angehört hatte (relevante Inhalte ihrer Reisen teilte die Dame nie. Da sie in ihren blumigen Erzählungen aber ganze Tage und Wochen ausließ, ging die Haushälterin davon aus, dass es sich bei der oft wochenlangen Abwesenheit nicht nur um Lustreisen handelte) und selbst über die aktuelle Entwicklung der Stadt gesprochen worden war, war Constance zum Markt aufgebrochen. In den Zollschleusen lagen die Schiffe heute dicht, ein Sammelsurium an Farben und Fahnen aller Herren Länder. Die Flagge Tirrannonns, wie sie auch über dem Gouverneurspalast wehte, war dennoch die am häufigsten zu sehende. Bald würde wieder eine Ladung Schiffe für die Herzogin die Halbinsel verlassen, gebaut aus den endlosen Holzvorräten im Landesinneren, mit den Händen der jarlower Bürger.
Jemand hatte ¡Libertad! an die Stadtmauer geschrieben. Die Legionarios waren dabei die roten Buchstaben abzuwaschen. Constance stimmte dem Schreiber zu. Freiheit von Tirrannonn, ein selbstständiges Jarlow. „Was hat die Herzogin je für uns getan“, hatte eine Frau auf dem Markt sie vor ein paar Wochen gefragt, „außer die Steuern nicht zu erhöhen?“
Aber auch das würde bald vorbei sein, wusste Constance aus sicherer Quelle. Und je später das Jahr wurde, umso lauter wurden die Forderungen der Menschen in der freiheitsliebenden Stadt.

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Aus dem Leben einer Haushälterin II


Zeit: 219 ndGFdB
Wichtige Personen: Constance Marino, Francesca Schivarone
Wichtige Orte: Herzogin Odalga Platz, Gasthaus “La Mirada”

Wenn der Herbst nach Jarlow kam, war dies üblicherweise eine angenehme Zeit mit vielen milden Sonnentagen und farbenfrohen Landschaften. Sowohl Blumen als auch Laub wetteiferten zum Abschluss des Jahren noch einmal miteinander, wer mit größerer Pracht die Hügel und Gärten von Jarlow-Stadt zieren konnte. Während im Sommer die Hitze in den Straßen oft erdrückend war, brachte nun die milde Meeresluft mehr Erfrischung als den Geruch von abgestandenem Fisch mit sich. Im Besonderen erfreute sich Constance aber an den frischen Weinbeeren, die jetzt geerntet wurden und aus dem Landesinneren an die Küste kamen. Zwar gab es auch einige wenige Weinberge im Umfeld der Stadt, aber diese waren kaum mehr als Gärten und der aus den Früchten gekelterte Wein eher mittelmäßig. Die guten Trauben kamen aus der Region um G’nitalia, dem alten Stammsitz der Castellanis, und Constance liebte sie. Frisch, als Most, auch als Wein, in Kuchen, wie er an den vielen Straßenständen der Bäckereien in der Stadt verkauft wurde, und in der Bratensauce, wie sie es ihren Herrschaften um diese Jahreszeit auftischte. Heute Abend würde es wieder so weit sein, der Schlachter am Markt hatte ihre Auswahl schon zurückgelegt und wenn Constance die morgendlichen Einkäufe abgeschlossen hatte, würde sie mit all ihrer Beute zurück in die Villa Rosa gehen und den Ofen anheizen.

Leider war dieser Herbst alles andere als üblich. Es war früh im September kalt geworden und das Wetter zeigte mehr Regen als Sonne. Man hörte Gerüchte, die Olivenernte würde sich darum verzögern und schon bald würde es schwierig werden, welche am Markt zu kaufen. Denn in Jarlow-Stadt waren Gerüchte und Wahrheit gleich viel wert. Die vage Vermutung, etwas könne geschehen, wurde von den Städtern oft äußerst gelassen in Tatsachen umgewandelt. So kaufte Constance Olivenöl und eingelegte Oliven, lieber noch ein paar Gläser mehr. Alles wurde zurückgelegt, mit ihrem Namen beschriftet und auf einer Rechnung erfasst, die man später an ihr Haus richten würde. Nur bei wenigen Händlern bezahlte Constance direkt mit dem ihr zugeteilten Haushaltsgeld, wenn das Geschäft zu klein und der Aufwand einer Rechnung zu groß für den Betreiber war.
Ansonsten reichte allgemein der Name ihrer Herrschaft oder deren Anschrift, denn den Bewohnern der größten Stadt Jarlows war gut bekannt, wo die Mitglieder der einflussreichen Familie Castellani lebten. Dieser Umstand erleichterte Constances Gemüt sehr, so brachte es sie nicht in die Verlegenheit, große Mengen Geld mit sich zu führen, wenn sie sich durch die Menschenmengen auf dem Marktplatz unter der Herzogin-Odalga Statue presste. Selbst den Einheimischen fiel es oft schwer, all die vielen kleinen Geldbeutel bei sich zu behalten, in denen man hierzulande seine Barschaft verwarte. Winzige diebische Hände waren allgegenwärtig, die Schattenwirtschaft florierte im Stadtzentrum ebenso wie im Hafenviertel und all dies unter den wachsamen Augen der Legionäre, die durch gelegentliches Eingreifen nicht nur für Sicherheit, sondern auch für einen zusätzlichen Geldstrom in ihre eigenen Taschen sorgten.

Nachdem Constance ihren Einkaufsbummel beendet hatte und die Vorräte für die kommende Woche bestellt, schlenderte sie zum Rand des überfüllten Marktplatzes, um eine ihrer Freundinnen zu besuchen. In den Erdgeschossen der mehrstöckigen Stadthäuser hier am Markt waren viele Geschäfte und Tavernen beheimatet. Eine der letzteren gehörte Francesca Schivarone, eine aus altem Jarlower Piratenadel stammende Matrone, die in ihrem Gasthaus “Bajo la Mirada Atenta de Nuestra Duquesa” - was man eigentlich nie so nannte - jeden zahlungsfähigen Gast aus Jarlow und viel häufiger vom Hafen aufnahm. Um die stetig hohe Gästezahl kümmerte sich, neben einem guten Ruf, sauberen Betten und gutem Essen, auch eine handvoll Straßenkinder am Hafen. Diese sammelten desorientierte Reisende von den anlegenden Schiffen ein und leiteten sie für etwas Kleingeld in das Etablissement von Signora Schivarone, die den schmutzigen Gören dafür etwas zu Essen und gelegentlich ein Bad zur Verfügung stellte. Dass die Wirtin aus diesem Umgang keinen Hehl machte, trug eher noch zum guten Ruf bei und man sprach in der Stadt wohlwollend von Frau Schivarones Waisenhaus, wenngleich das nur wenig Bezug zur Realität hatte.

Constance jedenfalls war schon seit Jahren mit Signora Schivarone befreundet, die beiden Frauen hatten schon in ihrer jeweiligen Lebensblüte den Reisenden den Kopf verdreht. Früher allerdings mit dem Augenaufschlag. Heutzutage mit ihren schrillen Wortgefechten und Gesprächen über die Begebenheiten der Stadt, die zwar an einem Kaffeetisch geführt wurden, aber zur Unterhaltung des ganzen Lokals geeignet waren. Sie steckte ihren Kopf zur Tür hinein, machte sich bemerkbar und nahm dann mit einem glückseligen Seufzen auf einem Stühlchen vor der Haustür Platz, von dem aus sie das geschäftige Treiben des Marktes weiter beobachten konnte. Unweit des kleinen Sonnenplatzes vor dem Gasthaus saß ein schmutziges Kind am Boden und spielte mit einem Nagetier, nickte Constance aber höflich zu, als sich die Blicke kreuzten. Dann widmete es sich wieder der Beobachtung des Platzes, auf der Suche nach potentiellen Gästen für das Gasthaus - oder nach Taschen, die zu voll waren.
Schließlich tauchte Francesca auf, eine gut und einfach gekleidete schlanke Frau mit kunstvoll unter einem Spitzenhäubchen gezähmten Haaren. Die beiden Freundinnen begrüßten sich überschwänglich, kaum dass die eine das Teetablett abgestellt hatte.

Noch bevor sie wieder saßen, begann das Geschnatter, ein schier endloser Fluss an Neuigkeiten und Klatsch, in dem die Gesprächsthemen einander jagten und verfolgten, ohne dass ein Zuhörer neben der gelegentlichen Einzelinformation ein Muster hätte entnehmen können. Signora Schivarone wusste von ihren Gästen zu berichten, Reisende aus Tirannon, die beim Gouverneur vorsprechen wollten, jedoch abgewiesen worden waren. Dass es Gerüchte um den Herrn Isenhard gäbe, er solle zur Herzogin zurückgerufen worden sein und ebenso, dass die neun Mann starke Truppe im Palast des Kron-Gouverneurs aus dessen Heimat aufgestockt werden sollte. Nachdem sie sich einmal umgesehen hatten, empörte man sich herzlich über die Dreistigkeit der tirannonischen Besatzer und bekräftigte den Wunsch nach einem freien Jarlow, was von anderen in Hörweite lauschenden Gästen zustimmend erwidert wurde.
Während der folgenden Tasse süßen Tees berichtete Constance nun ihrerseits, sie habe die Gelegenheit gehabt, im Auftrag ihrer Dame eine Wohnung für die Secretaria des Capo Ramirez zu gestalten. Diese sei eine ganz reizende junge Frau, erklärte sie ihrer Freundin - obwohl sie dies nur gehört hatte und Leanna Castellani nicht kennenlernen konnte. Die Nachricht, dass die junge Frau ja mit einem Ausländer verheiratet sei, ebenfalls ein sehr höflicher und überaus ehrbarer Herr, war altbekannt, ganz brennend aber die Neuigkeit, dass das gemeinsame Kind vor drei Tagen auf die Welt gekommen war. Auf Nachfragen Francescas erging sich Constance in Einzelheiten.
Wie sie vom guten Capitano Rastrojo ein paar Arbeiter ausgeliehen hatte, während ihre Dame die Vorhänge kaufte. Dass die Wände der hübschen Wohnung hier am Markt nun bunt bemalt waren und wie ausgesprochen gut sie mit ihrer Dame das spärliche, aber geschmackvolle Mobiliar positioniert hatte. Darüber, dass die junge Familie die Wohnung erst kurzfristig erhalten hatte und dass sie die Wiege des Kindes mit einem zeitlosen Häkeldeckchen dekoriert hatten, welches die Tante von Constances Dame, Mercedes Castellani, zur Geburt geschenkt hatte und schließlich, wie Constances Dame sehr akrobatisch auf den Stühlen balanciert war, um die viel zu teuren Vorhänge aufzuhängen.
Erst nach einer ganzen Weile senkte Constance ihre Stimme und beugte sich näher an ihre Freundin heran. Ihr sei aufgefallen, berichtete sie fast flüsternd, dass der junge Gatte der Frau Leanna Castellani überaus kräftig war und recht grimmig wirkte. Aber sie habe auch erlebt, wie er hilfsbereit dazukam und tatkräftig beim Einrichten unterstützte, nachdem sich seine neue Schwester Josephina Castellani, Constances Dame, schwer den Fuß gestoßen hatte. Daraus schloss Constance, dass der junge Mann das Herz wohl am rechten Fleck haben musste, sich aber noch schwer damit tat, seiner neuen Familie die tief empfundene Wertschätzung zu zeigen.

Es dauerte noch eine Weile, bis sich die beiden Frauen ausreichend über die interessanten und zu jeder Zeit äußerst vorbildlichen Tätigkeiten der Familie Castellani ausgetauscht hatten. Die positiven Worte überraschten in Jarlow-Stadt niemanden, denn in der Öffentlichkeit tat bekanntlich niemand gut daran, schlecht über die feine Familie zu reden. Überhaupt gab es nur wenig Schlechtes zu berichten. Unter der Herrschaft der tirannonischen Herzogin, die kein Bürger Jarlows je gesehen hatte - abseits von ihrer prächtigen Statue auf dem Marktplatz natürlich - hatte es die Familie Castellani vermocht, die Stimme der Einheimischen zu vertreten und viel Übles von der Kolonie fernzuhalten. So stand es in den Zeitungen und fast jeder wusste davon zu berichten - also musste es wahr sein.
Nur selten einmal wurde eine Stimme laut, die behauptete, Castellanis hätten sich zu Unrecht zu den Herrschern des Landes aufgeschwungen, mit Intrige und List den Gildenrat unter ihre Kontrolle gebracht. Dass sie die wenigen Gildenhäupter, die nicht direkt ihrer Familie angehörten, erpressen würden und die anderen großen Häuser längst ihrem Willen unterworfen hätten. Noch viel seltener, als dass man von diesen Stimmen hörte, kam es vor, dass ihnen jemand offen zuhörte. Meistens verklang das Gesagte, oft sogar unter dem Spott der lokalen Klatschpresse und die Besitzer jener Stimmen wurden nie wieder gesehen.
Francesca wusste, dass es in den ländlichen Regionen mal eine Gruppierung gegeben hatte, welche sich gegen die feine Familie verschworen hatte und für die Freiheit der Menschen zu kämpfen vorgab. Einst waren sie, mit leuchtend gelben Tüchern markiert, auch hier in der Stadt aufgetaucht und hatten für viel Unruhe gesorgt. Aber seit drei Jahren war es still um die Quisquilla geworden. Als es durch die Kolonialherren mit der Erhebung neuer Steuern und der Androhung weiterer dem Gildenrat unmöglich geworden war die Bürger Jarlows ferner vor Tirannon zu schützen, hatte sich die Wut der Unruhestifter gegen eine andere, abstraktere Obrigkeit gewendet und die breite Bevölkerung angesteckt.
Der Disput über die Herzogin Odalga einerseits und die Freiheit Jarlows andererseits war auch im “Mirada Atenta” erbittert ausgetragen worden; vor allem, wenn vermeintlich tirannonische Gäste hier untergekommen waren. Francesca hatte sich dann mit ihren Schankmädchen unter den Bartresen gehockt, Wetten auf den Sieger der Schlägerei abgeschlossen und sich erfreut, dass der streitbare Geist der Jarlower unter Wohlstand und Mohn doch nicht ganz eingeschlafen war. Seither waren Gildenrat und Herzoginhof in steten Verhandlungen gebunden. Immer wieder kamen Botschafter aus Tirannon auf die Halbinsel, und meistens reisten sie empört wieder ab. Vor zwei Jahren war dann einer dieser Botschafter mit seiner gesamten Begleitung spurlos verschwunden. Es wurde verbreitet, dass die Wilden die Gesellschaft wohl auf Reisen in der Region um G’nitalia überfallen hatten. Jeder gute Bürger Jarlows aber wusste, dass es in dieser Region um den Stammsitz der Familie Castellani keine Wilden gab und die Legion hier tatsächlich für sichere Straßen sorgte. Da aber auch und gerade die feine Familie nichts von dem Botschafter und seinem Verbleib wissen wollte, hatte man aufgehört zu fragen und es war auch kein neuer Abgesandter des Hofs mehr nach Jarlow gekommen. Ein weiteres Jahr später war heute dringend ein neues Tagesthema notwendig, um die Fantasie der Städter anzufachen. Glücklicherweise hatte eine der beiden Freundinnen am Teetisch stets den ganz neuen Klatsch erfahren und weiterzugeben; und wenn auch von ihnen keine mehr weiter wusste, dann würde eine andere Frau auftauchen und etwas beitragen.

So war es auch jetzt und nach einer überschwänglichen Begrüßung von Lucia, der Frau des Mohnbäckers der Casa Panificadora, holte Francesca neuen Tee. Die Hochzeitsvorbereitungen des Capo Ramirez Castellani wurden thematisiert. Seine Verlobung im fernen Mythodea hatte für viel Unmut unter den besseren Damen der Jarlower Gesellschaft gesorgt. Aus seiner wilden Jugend durchaus bekannt, hatte sich wohl die ein oder andere vergeblich Hoffnung gemacht, über diese Abkürzung in die vordersten Reihen der feinen Familie einheiraten zu können. Nun war diese Gelegenheit einer Fremden zuteil geworden, einer vollkommen Unbekannten in der Gesellschaft der Stadt. So unbekannt war sie, dass man nicht mal wusste, wo sie wohnte. Gerüchteweise war sie wohl in der Akademie der spitzen Hüte zu Gast gewesen, war eine Bekannte der Charlotta Castellani, was wiederum für große Unterhaltung in den Gesprächskreisen sorgte. Immerhin war Carlotta Castellani selbst lange mit dem damaligen Patron Ramirez verlobt gewesen und die dramatische Auflösung der Verbindung bald nach seiner Beförderung zum Capo für die Angelegenheiten Mythodeas hatte für viel Gassenklatsch gesorgt. Nun hatte sich dieser Mann, der stadtweit als erste Wahl galt, eine Freundin seiner ehemaligen Verlobten erwählt und, so sagte man hinter vorgehaltener Hand, sie damit schwer vor den Kopf gestoßen. Wie gut, so tauschten sich nun auch die drei Frauen am Teetisch aus, dass auch die Großen und Mächtigen von den Dramen der Liebe nicht verschont blieben. Sie fragten sich aber auch, ob das Paar zur Gründung einer eigenen Familie wohl in der Villa Castellani im Stadtzentrum wohnen bleiben würde.
So richtig wusste keine der drei, wie sich die Bewohnerschaft des prächtigen Herrenhauses zusammensetzte. Am Rande zweier Parks gelegen war die Villa nicht weniger ausladend als der Gildenrat oder der Palast des Gouverneurs, allerdings deutlich besser bewacht. Zutritt hatten fast ausschließlich Mitglieder der Familie Castellani, selbst die meisten Dienstboten der hochrangigen Bewohner rekrutierten sich aus den Reihen der eigenen Familie.
Doch es lebten nicht alle Angehörigen der feinen Familie in der Stadt oder dem Haus. Neben G’nitalia, seit jeher Stammsitz und Altersruhesitz der Familie, lebten die Castellanis und ihre nahen Verwandten, die de la Rocca, in allen größeren Siedlungen Jarlows und mischten sich dort gelegentlich unter die Bevölkerung, gingen herkömmlichen Berufen als Handwerker und Gastwirt nach. In Jarlow-Stadt selbst lebten einige - in teilweise hübschen Stadthäusern, oder wie Constances Herrschaft in gemütlichen Wohnungen und bisweilen an absonderlichen Orten. Von Rocco Castellani, dem umtriebigen Bruder Ramirez’ und ungekrönten Patron Jarlow-Stadts, hieß es, er lebe auf dem Dach eines Freudenhauses und bediene damit seine Exzentrik.
Pedro Castellani dagegen, ein alter Weggefährte Ramirez’ und Vorzeigepatron der Familie, behütete seine Frau und die Kinder in einem standesgemäßen Haus im Rico Quarto, obwohl er die meiste Zeit im Hafenviertel und im Casino del Mar verbrachte. Constance hatte einmal vermutet, dass dem Onkel ihrer Dame das Casino wohl gehören musste. An jenem Abend hatte sie im “Mirada Atenta” etwas tief in ihr Glas geschaut und sich lautstark gefragt, wie der Mann, der in Mythodea einst sein Glück gemacht hatte, seine eigene Familie und den dekadenten Lebensstil seiner Nichte aushalten konnte.
Bald darauf hatte sie sich an einem anderen Abend vor den nicht minder vollen Schankraum gestellt und verkündet: Wer auch immer sie an ihre Dame verpfiffen hätte, solle heute auf ihre Kosten trinken! Denn selbstverständlich sei eben diese Dame äußerst sparsam und arbeite im Gildenrat fleißig für das Wohl Jarlows.

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Aus dem Leben eines Kindermädchens


Zeit: später Herbst 219 ndGFdB
Wichtige Personen: Mariella Dimanta; Marcello Castellani; Lucia, die Bäckersfrau
Wichtige Orte: Marktplatz, Jarlow-Stadt/Casa Panificadora

Señora Dimanta mochte den goldenen Herbst in Jarlow ausgesprochen gerne und trauerte ihm schon jetzt hinterher, war der Jahreszeitenwandel doch in der Luft schon spürbar. Die Sonnenstrahlen hatten einfach nicht mehr dieselbe Kraft, obschon es ihnen immer noch gelang das Laub der Weinreben in stimmungsvoll leuchtende Farben zu tauchen. Die Brise, die vom Meer und dem Hafenviertel herüber wehte war eine Spur kühler und frischer, und die Jarlower Bürger trugen ihre Krägen einen Hauch höher als noch in der letzten Woche. Es waren bereits die ersten Fässer Traubenmost erhältlich, und bald würde auch der Jungwein in den Tavernen Einzug halten. Zügigen Schrittes schritt Señora Dimanta über den Marktplatz. Es lag nicht in ihrer Natur zu schlendern; eigentlich hatte es immer den Anschein, sie hätte ein deutliches Ziel vor Augen und keine Zeit für Ablenkung auf dem Weg. Ein Stück weit stimmte dies auch, da sie nichts von Müßiggang außerhalb der Ruhepausen, die sie sich gönnte (und seit einigen Jahren immer öfter gönnen musste) hielt. Aber man tat gut daran, die resolute Dame nicht zu unterschätzen. Sie bekam weitaus mehr aus ihren Augenwinkeln mit, als man ihrem fokussierten Blick zugetraut hätte.
So war auch an diesem Tag diese Fähigkeit von Nutzen, da sie gerade noch rechtzeitig die Gestalt bemerkte, die kurz vor ihrem Ziel plötzlich stehen blieb, sich umdrehte und damit eine Kollision mit ihr provoziert hätte, wäre Señora Dimanta nicht im letzten Augenblick ausgewichen. Sie wollte den jungen ungestümen Burschen gerade matronenhaft ob seiner Rücksichtslosigkeit zurechtweisen, als sie gewahr wurde, wer da vor ihr stand. Also brachte sie schnell ihre Gesichtszüge in Ordnung und grüßte nur höflich nickend: „Der Herr Castellani.“ Immer noch breit grinsend und vollkommen ahnungslos ob des Unglücks, das fast passiert wäre, drehte der junge Mann sich zu Señora Dimanta um und grüßte zurück, bevor er seiner kleinen Familie, die am Fenster des Wohnhauses stand, aus dem er soeben gekommen war, ein letztes Mal zuwinkte und schließlich Richtung Süden schritt. Sein Schritt war federnd und strahlte ein hohes Maß an Glück und Zufriedenheit aus. Señora Dimanta musste aufpassen, nicht kopfschüttelnd über den jungen Herrn Castellani zu lachen. Seine gute Laune war beinahe ansteckend und er wirkte wahrhaft glücklich mit seiner neuen Familie. Aber Señora Dimanta kannte sowohl das Leben, als auch das Glück und die Liebe genug, um zu wissen, dass auch andere Zeiten auf den Mann zukommen würden. Dennoch freute sich ein Teil von ihr für das momentane Gefühl des seltsamen Neuzugangs der Familie Castellani.

Sie wusste von der Amme, dass der große Kerl in den ersten Tagen nach der Geburt seines Sohnes kaum von der Seite seiner Frau gewichen war. Sie selbst hätte derartiges Verhalten bei ihrem Mann niemals gebilligt, denn schließlich gab es Angelegenheiten, die strikt Frauensache waren. Aber Marcello Castellani, wie er häufig in dem Wohnhaus über der Mohnbäckerei genannt wurde, schien sich mit einer Aufrichtigkeit um seine Frau und das Kind zu bemühen, die erahnen ließ, dass er sie wirklich aus Liebe geheiratet hatte, und nicht nur, wie man sich unter der Hand zuraunte, um den Rängen der Heereswacht zu entkommen. Trotzdem, so wusste die Amme ihr bei einem Plausch zu berichten, als sie mit den Kindern einen Spaziergang machten, war es gut, dass die junge Dame Castellani so schnell zu Kräften gekommen war. Denn sie selbst war deutlich resoluter und kompromissloser, wenn es darum ging, unliebsamen Anstandsbesuch aus der frisch eingerichteten Wohnung hinaus zu komplementierten. Nur ihr sei es zu verdanken gewesen, dass die junge Familie endlich eine Routine fernab der Besucherströme der Großfamilie beginnen konnte. Und so nahm Señora Dimanta es mit noch mehr Wohlwollen wahr, dass der ehemalige Wächter sich endlich einmal von seiner Familie verabschiedet hatte und scheinbar anderen Dingen nachging. Schließlich billigte sie Müßiggang ohnehin nicht, und es war nur gut, wenn der junge Mann endlich mehr über Geschäfte im Allgemeinen und die Geschäfte der Familie im Besonderen, lernte. Ihrer Meinung nach war diese Art der Fürsorge für eine Familie für einen Mann deutlich angebrachter, als unbeholfen im Weg rumzustehen, wenn das Kind vor Hunger schrie oder der frischgebackenen Mutter ein Glas Wasser zu reichen.

Nun musste Señora Dimanta erst recht aufpassen, dass sie nicht sichtbar den Kopf schüttelte. Sie war an der Tür, aus der der junge Castellani soeben noch gekommen war, angelangt, um nun selbst dasselbe Haus, wenn auch eine andere Wohnung darin zu betreten. Was waren die Hausbewohner hier doch seltsame Leute? In der einen Wohnung gab es eine kleine Familie, in der der Vater überfürsorglich, aber etwas… nun ja… eben anders war. In der anderen Wohnung lebten Bruder und Schwester zusammen, was das betagte Kindermädchen noch durchaus verstehen konnte. Allerdings hätte sie dann entweder eine ältere, nicht sonderlich ansehnliche Frau erwartet, bei der man es längst aufgegeben hatte, sie zu verheiraten. Oder aber eine junge Witwe in Trauerfarben, deren Bruder sie großzügig nach dem tragischen Ableben des Mannes wieder aufgenommen hatte, damit die Mutter sich sorglos um ihr Kind kümmern könnte, bis das Anstandsjahr vorbei war und man einen neuen Ehemann finden konnte. Stattdessen aber hatte man ihre Dienste für eine junge Frau mit Kind angefragt, über deren Status so auffällig kein Wort gesagt wurde, dass Señora Dimanta die typische Jarlower Art der Aussage durch Nichtaussage nur allzu gut verstand. Sie missbilligte diesen Umstand und hatte die Stellung eigentlich ablehnen wollen. Immerhin hatte sie einen tadellosen Ruf als Kindermädchen zu verlieren, war stets nur in anständigen und guten Haushalten beschäftigt gewesen. Als sie dann aber gehört hatte, dass es sich bei eben jener jungen Frau um die Schwester des Capitano handelte, hatte sie ihre Bedenken über Bord werfen müssen, obschon sie selten über die Gründe dahinter sprach. Sie hatte sich stattdessen einfach entschlossen so zu tun, als sei alles in bester Ordnung; neben der Auslassung wichtiger Informationen eine weitere Kunstform in Jarlow. In ihrem Kopf war der Vater des Kindes, der selbstverständlich mit der Mutter in Ehe verbunden war, geschäftlich unterwegs und würde einst zurückkehren (und jeder wusste, dass man bei Geschäften in Jarlow nie zu genau nachfragen durfte). Oder aber er war tragisch verunfallt. In diesem Fall durfte man auch nicht nachfragen, um das trauernde Herz der armen Mutter nicht zu belasten. Sprach ein Außenstehender sie auf Informationen zu seiner Identität oder seinem Verbleib an, antwortete Señora Dimanta stets mit einem gut eingeübten tragischen Seufzen und der ersten Jarlower Kunstform – der Nichtaussage.
Señora Dimanta betrachtete das Kind, ein Mädchen von nicht ganz zwei Jahren und flachsblondem Haar, wenig später mit einem großen Maß an Wohlwollen und Zustimmung. Die kleine Anna hatte soeben mit einer großen Geste, welche sie ganz offensichtlich von den Erwachsenen abgeschaut hatte, zunächst ein Papiertuch auf ihrem Schoß ausgebreitet. Dann hatte sie das Stückchen Mohnkuchen, das vor ihr lag, mit freudigem Blick beäugt und schon danach greifen wollen, im letzten Moment aber, noch bevor Señora Dimanta sich gezwungen sah tadelnd zu räuspern, „Finger nicht! Gabel!“ ausgerufen. Sie griff also nach der kleinen Kuchengabel und strahlte dabei das Kindermädchen an, ganz offenkundig voll kindlichem Stolz, dass sie sich so gut an alles erinnern konnte. Großzügig sah Señora Dimanta daher über den Umstand hinweg, dass die Papierserviette mittlerweile von den kleinen Beinchen gerutscht war, während Anna umständlich den Kuchen zu zerlegen versuchte und mit einem gesunden Appetit anfing zu essen.

Señora Lucia, die Bäckersfrau, sprach aus, was Señora Dimanta niemals laut bemerken würde und gab polternd lachend kund: „Na, bei der kleinen Señorita ist deine Arbeit aber wahrlich gut gelungen. Wie wohl erzogen sie doch ist!“ Überhaupt waren das betagte Kindermädchen und die ähnlich alte Bäckersfrau ein recht ungleiches Paar. So wurde das üppige, mittlerweile bereits von einigen Falten gezeichnete Dekollete der lebhaften und geschwätzigen Bäckersfrau für Dimantas Geschmack stets ein wenig zu freizügig präsentiert, ebenso wie aktuelle Geschehnisse der Stadt, über die die Frau dank der hohen Kundenzahl in der Regel bestens informiert war. Sie lachte gerne, herzlich und viel. Dimanta hingegen trug tagein tagaus eine bis zu dem Kehlkopf hochgeschlossene Rüschenbluse, wie sie bereits vor gut zwanzig Jahren Mode war und seit dieser Saison sich wieder aktueller Beliebtheit erfreute. An Dimanta aber hatte sie über all die Jahre angemessen und zeitlos gewirkt. Sie strahlte ein hohes Maß an Ernsthaftigkeit aus, war aber nie ungerechtfertigt unfreundlich und hatte, wenn man sie kannte, ein größeres Herz als ihr strenges Erscheinungsbild je vermuten ließ.

Anna beachtete die beiden Frauen derweil gar nicht und war weiter um ihren Kuchen bemüht. Sie saß mit ihnen im kleinen Nebenraum hinter der Verkaufsstube der Mohnbäckerei, der bereits zur Wohnstube der Bäckersfrau und ihres Mannes gehörte. Hier pflegten sie während der Geschäftszeiten kleine Mahlzeiten einzunehmen oder aber am schmalen Tisch die Abrechnungen des Tages zu notieren und neue Bestellungen aufzugeben. Señora Dimanta war recht glücklich darüber, dass es sich so eingespielt hatte, dass sie in regelmäßig unregelmäßigen Abständen mit dem Kind in ihrer Obhut eingeladen war, hier zu verweilen. Zum einen wusste die Bäckersfrau das Kindermädchen oft über neuen Tratsch aufzuklären, dem Señora Dimanta selbstverständlich zwar nie etwas beisteuerte, dem sie aber mit mehr Interesse lauschte, als sie es jemals öffentlich gezeigt hätte. Zum anderen vermied sie es so, mit dem Kind zu früh in die Wohnung zurückzukehren, um dort ein Stück Gebäck einzunehmen, wie es eigentlich in Jarlow üblich war. Hier pflegte man, zumindest in den besseren Kreisen, die Tradition am Nachmittag einen Tee und etwas Gebäck in privaten Räumen einzunehmen. In etwas bodenständigeren Verhältnissen gab es auch zuweilen lediglich eine Tasse Kaffee und auf Reisen war es durchaus erlaubt und üblich, zu diesem Zweck in eine Taverne einzukehren. Meist boten wenigstens die Wirtshäuser in den nicht ganz einschlägigen Gegenden einen derartigen Nachmittagsimbiss an. Selbstredend war dies aber nicht die Umgebung für ein Kleinkind, die Señora Dimanta für angemessen gehalten hätte. Wenn die Jarlower ehrlich mit sich selbst waren, wussten sie aber alle, dass es bei diesem Imbiss im Grunde weniger um den Tee oder das Gebäck als solches ging, als vielmehr um den Austausch und die Geschichten, die man sich erzählte, während man das heiße Getränk abkühlen ließ. Es galt daher als schicklich eher Kleingebäck als opulente Torten zu servieren, während man darauf bedacht war, dass Tee und Kaffee vorzüglich heiß waren. Denn so war man förmlich gezwungen die Zeit, die man darauf wartete, dass ein Getränk eine verzehrtaugliche Temperatur erreichte, damit zu verbringen den neuesten Tratsch auszutauschen, während die kleinen Bissen vom Gebäck den Mund nie zu lange beschäftigten. Andererseits konnte es natürlich auch ein subtiler Hinweis sein, wenn man bei einem wiederholten Besuch allzu viel leckere Köstlichkeiten vor sich aufgetürmt fand – dann tat man gut daran schnell zu überlegen, ob man nicht doch eine interessante Neuerung zu berichten wusste oder aber man entschuldigte sich schon bald, um der Peinlichkeit zu entgehen.

So war es nicht ungewöhnlich, dass in diesem Fall nur die kleine Anna ein ganzes Stück Kuchen vor sich hatte, während Dimanta und Lucia lediglich an einem Konfekt nibbelten. „Sag, meine Gute, ich habe letztens deinen Sohn gesehen. Ein feiner Kerl, der sich wahrlich gemacht hat. Ist schon eine passende Frau für ihn in Aussicht?“ Und so plauderten sie, immer wieder unterbrochen durch Kundschaft in der Bäckerei, bis dass es Zeit wurde, dass Señora Dimanta das kleine Mädchen zurück in sein Zuhause ein Stockwerk höher geleitete.

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Aus dem Leben eines Werftarbeiters


Zeit: Herbst 219 ndGFdB
Wichtige Personen: Fabrizio Tabera, Capitan Rastrojo, Ernesto, Gonzalo
Wichtige Orte: Werft in Jarlow Ciudad, Herzogin Odalgar Platz (Marktplatz), Casa Panificadora

Es gab doch nichts besseres, als morgens geweckt zu werden durch die Angst vor dem sicheren Tod durch den freien Fall. Zumindest ging es Fabrizio Tabera so, der die ersten Augenblicke des Tages schwer schnaufend und fluchend verbrachte. Seine Hände krallten sich in die Seile seiner Hängematte, die immer noch bedrohlich schaukelte. Wer verschläft, wird aus der Matte gerissen, so wurde es gehandhabt. Deswegen gewöhnte man sich an, vor dem Vorarbeiter wach zu sein. Wieso hatte er verschlafen? Es war sicher schon kurz vor der sechsten Stunde am Morgen, man konnte draußen bereits die Möwen hören, und ein zaghaftes Stimmengewirr drang durch die schlecht verbretterte Außenwand der Unterkunft. Um Fabrizio herum standen die anderen Männer längst im Halbdunkel und machten sich bereit für den neuen Tag.
Er war sauer auf sich, er hatte verschlafen, mindestens eine Stunde. Alles musste nun sehr schnell geschehen. Eigentlich begann die Schicht für die Mannschaft in der er arbeitete um 6 Uhr, aber die typische „Jarlower Viertelstunde“ erlaubte es ihm ohne Stockschläge anzufangen, wenn er jetzt nicht trödelte. Was ihm nun jedoch alles entging! Kein gemütliches Pfeifchen im Morgengrauen mit den Beinen baumelnd über der Kaimauer. Kein mit Wasser verdünnter Rum aus einer Schenke, die bereits offen hatte - oder noch nicht geschlossen. Im Hafenviertel waren die Übergänge da fließend. Doch was ihn am meisten grämte, war das Fehlen eines Frühstücks. Die ersten Fischerboote liefen schon gegen 4 Uhr in den Hafen ein, sodass kurz darauf der Geruch von frisch geräuchertem Fisch durch die Gassen zog. Fabrizio liebte diese Uhrzeit, es war die Stunde der ehrlichen Arbeiter in Jarlow-Stadt. Die Tagelöhner, Handwerker, Gesellen und andere begannen ihr Tagewerk, und die dunklen Gestalten hatten ihres in der Regel bereits beendet. Sobald die Sonne richtig aufgegangen war und auch die feineren Herren und Damen aufstanden und sich straßenfein machten, machte sich die Tagschicht bereit für neue Geschäfte.
Stupido! Aber natürlich… Seit zwei Stunden balancierte Fabrizio nun auf einem Balken, den Mund voller Nägel, von denen er immer einen mit der linken Hand heraus pflückte, auf eine Planke stellte und mit dem Hammer in der rechten einschlug. Der letzte Tag war schuld. Er war nicht in der Werft gewesen, sondern hatte einen Spezialauftrag bekommen. In einer Mittagspause kam der alte Rastrojo zu ihnen und wählte vier Männer aus, ihm zu folgen. Natürlich kannte er die Geschichten der älteren Jungs, die immer damit prahlten, dass sie Kumpels von Rastrojo seien. Dass es unzählige Male vorgekommen sei, dass er ihnen früher Feierabend gegeben habe oder einfach mal in der Pause eine Flasche Rum auf den Tisch gestellt hätte, dabei verschwörerisch grinsend. Aber solange Fabrizio hier in der Werft arbeitete, war das noch nicht passiert. Eh hatte er früh genug gelernt, dass eigentlich nur zwei Dinge wahr waren: Jeder lügt - gewöhn dich dran. Und: Der Knüppel des Vorarbeiters hat eine bestimmte Geschwindigkeit; sei schneller oder gerissener und du wirst verschont. Sei faul, unachtsam oder lass dich erwischen, dann gewöhne dich schon mal an Prellungen und blaue Flecken.

Rastrojo war natürlich nicht der Vorarbeiter, er stand über ihnen allen, und es war auch keiner in Sichtweite. Fabrizios erster Reflex, darüber nachzudenken was er verbrochen hatte, dass der Capitano ihn nun beehrte, war also im zweiten Moment überflüssig. So folgten die vier Männer Rastrojo auf dessen Geheiß durch das Tor der Werft im Hafenviertel.
Die Gassen waren überfüllt. Matrosen, Dirnen, fliegende Händler, Bettler, Halunken, alte Mütterchen, Kinder in allen verschiedenen Schmutzgraden und Verfärbungen bildeten eine heterogene Masse, durch die sich Rastrojo schob. Seine eh schon massige Gestalt machte noch mal mehr Eindruck durch die feuerrote Uniform, die er trug. Wie ein Keil trieb er die Menschenmenge auseinander. Sie wandten ihren Schritt Richtung Süden leicht bergauf in die reicheren Viertel, dort wo die Stadt sich an die Anhöhe anschmiegte, von wo aus die reichen Familien auf den Hafen hinunter blickten. Fabrizio erkannte, dass sie auf den großen zentralen Marktplatz, dem Herzogin Odalgar Platz, zusteuerten. Er war nicht oft hier, trotzdem mochte er den Markt. Die zahlreichen kleinen Stände und Verkaufsbuden bildeten fast so etwas wie einen Jahrmarkt. Überall schrien die Händler um die Wette und priesen alles an, was irgendwie zu Geld gemacht werden konnte. Tuchhändler verhängten die Zwischenräume der Stände mit Ihren edlen Stoffen. Gewürzhändler ließen große Körbe voller Kräuter und duftender Blüten offen stehen, damit der Geruch die interessierten Leute anlockte. Kunden, Interessierte, Verkäufer, Schaulustige, Touristen, Flanierer, Lebeleute, Legionäre, sowie Dienstleister aller Art bildeten hier eine dichte Atmosphäre der Geschäftigkeit, die nicht vergleichbar war mit den Gassen am Hafen. Dort unten im Hafen passte man höllisch auf, kein Geld zu verlieren. Hier oben auf dem Markt wollte man es mit beiden Händen ausgeben. Man hoffte einfach, dass das Geld in den richtigen Taschen landete und man dafür einen adäquaten Gegenwert bekam. Alles konnte man gegen Geld bekommen, einen Korb voll Obst und Gemüse, zwei Flaschen Wein, ein kleines Amulett, die lang ersehnte Schatulle aus Ebenholz für die ausufernde Ringsammlung - und manchmal bekam man auch einfach einen Dank von den flinken Händen der Waisenkinder, ob man es nun wollte oder nicht.

Die Männer aus dem Hafen liefen in einem Bogen um die zentrale Statue der Herzogin. Man konnte ja über Tirrannon sagen, was man wollte, aber eigentlich machte sich die Herzogin nur Freunde - zumindest bei der örtlichen Möwenpopulation. Jeder andere jarlower Bürger, so schien es, hatte sein eigenes kleines Ritual des Aufbegehrens entwickelt. Fabrizio bedachte die prunkvolle Statue auf dem sehr hohen Sockel, sodass die Statue an sich außer Reichweite lag, mit einem übertriebenen Augenrollen. Um ihn herum erklangen Hustgeräusche, andere zogen die Nase hoch und spuckten aus oder murmelten etwas in einer Sprache, die er nicht verstand. Für Außenstehende mochten diese Rituale etwas ungewohnt sein, aber hier wusste jeder, was es damit auf sich hatte. Der Sockel musste der bestgeputzte Ort in ganz Jarlow sein, so oft wie die Schmierereien im Morgengrauen mit Wassereimern und groben Bürsten abgeschrubbtwerden mussten. Capitano Rastrojo steuerte auf den Rand des Marktplatzes zu, dort wo die hohen edlen Häuser der Kaufleute und besseren Gesellschaft standen. Etwas ratlos guckten sich die vier Männer an, als sie vor einem Haus stehen blieben, in dessen Erdgeschoss eine Bäckerei untergebracht war, genauer gesagt eine Mohnbäckerei. Waren sie deswegen hier? Sollten sie dem Capitano helfen eine Lieferung abzuholen? Und wieso hier? Es gab in Jarlow-Stadt einige Süßbäckerein, die sich auch auf Kuchen, Gebäck, Teilchen, Plunder und Torten spezialisiert hatten und ihre Kunden mit allerlei Naschkram verwöhnten. Der Mohn, welcher im Landesinneren angebaut wurde, bildete oft die Grundlage für eine jarlower Köstlichkeit, nach der sich viele Leute verzehrten. Vielleicht war dies eine gar sehr besondere Bäckerei, für die sich der weite Weg gelohnt hatte? Sie folgten Rastrojo in den Hauseingang, der neben der bunt getünchten Wand lag, welche mit den reißerischen Malereien all jener Köstlichkeiten versehen war, die den Kunden im Inneren der Bäckerei erwarten würden. Dort stand eine resolute Dame und wechselte einige Worte mit Rastrojo. Dieser verließ danach seine vier Arbeiter, nicht ohne die Anweisung, auf die Worte der Señora zu hören. Später behaupteten zwei der älteren Männer aus dem Hafenviertel, die Señora sei ihnen irgendwie bekannt vorgekommen. Die erste Zurechtweisung hatte nur zwei Sekunden auf sich warten lassen, mit rotem Kopf kratzten sich die Männer die Stiefel draußen am Schuhschaber ab und betraten das Haus. Fabrizio staunte nicht schlecht.

Das Haus verfügte neben der Bäckerei im Erdgeschoss noch über drei Etagen. Es war gemauert und das Treppenhaus zierte eine schöne glattpolierte Holztreppe mit stabilen Handlauf, deren Stufen allerdings in der Mitte bereits soweit abgetragen waren, dass man erahnen konnte, dass die Bewohner hier bereits seit Jahren auf- und niederstiegen. Sie stiegen ganz nach oben in die Dachgeschosswohnung, welche sie dann betraten. Ihnen wurden von der älteren Dame erklärt, dass sie einige Möbel tragen würden, dass dieses und jenes Stück innerhalb der Wohnung umgeräumt werden müsse und dass andere Stücke aus der Wohnung zu befördern seien. Und sie sollten ja aufpassen, dass nichts kaputt geht! Danach waren sie alleine in einer Art Wohnzimmer. Auf den Schränken lagen überall noch Pakete verschiedenster Größe herum, in Packpapier gewickelt und adressiert. Fabrizio konnte aber eh nicht lesen. Viele Möbelstücke waren alleine in diesem Zimmer untergebracht. Fabrizio mochte sich kaum ausmalen, was dies alles wohl kosten mochte. Alle Kommoden, Schränke, Tischen und sonstige Mobiliar war verziert und irgendwie aufgehübscht. Hier musste ein reicher Händler wohnen, der eine Vorliebe für glitzernde Dinge, Vorhänge und Tischdecke hatte. Und vielleicht mit dem inneren Antrieb, so viele Einrichtungsgegenstände in ein Zimmer zu bekommen, wie es der Boden aushielt.
Sie fingen an, die kleineren Tische zu bewegen, von denen sie noch wussten, was damit geschehen sollte, packten sie und verfrachteten sie von rechts nach links. Einige Stücke sollten erstmal vor den Hauseingang gestellt, andere sollten verpackt werden, wiederum anderen sollten einer neuen Nutzung überführt werden. Fabrizio wurde verdonnert die Treppen rauf und runter zu hechten. Schwer bepackt runter, mit leeren Händen rauf. Er nutze die Gelegenheit ab und zu vor der Tür, um zu rauchen. Er traute sich nicht, dies bei feinen Leuten in der Wohnung zu tun. So hatte er die Gelegenheit die Leute auf dem Markt zu beobachten, sowie die Kunden der Bäckerei. Er trat den glühenden Stummel aus und ging wieder nach oben. Im ersten Obergeschoss hörte er vermeintlich die Bewohner, er war sich sicher, dort auch einen Säugling schreien zu hören. Er musste grinsen, welches ihm just danach einfror. Eine Etage darüber, wo seine Kumpanen werkelten, hörte man es rumpeln und kurz darauf die aufgeregte, autoritäre Stimme einer Frau. Einer deutlich jüngeren Frau, als die, die sie bisher kannten. Oh...und diese Frau war es gewohnt Anweisungen zu erteilen und Leuten zu verdeutlichen, wo deren Platz war, das hörte man. Den Teufel würde er tun, sich dort jetzt blicken zu lassen. Sollten doch die anderen ausbaden, was auch immer dort geschehen war. Wahrscheinlich hatten sie etwas fallen lassen, dem polternden Geräusch, welches kurz vorher erklungen war, nach zu schließen. Fabrizio drückte sich ins Treppenhaus und lauschte kichernd der unverständlichen Schimpftirade.

Er war aber nicht der einzige, der wohl gehört hatte, dass im Dachgeschoss etwas vor sich ging, denn kurz darauf öffnete sich die Tür im ersten Obergeschoss und ein großer Mann lief nach oben. Fabrizio hielt den Kopf tief gesenkt, drückte sich an die Seite, grüßte, das Kinn tief auf die Brust gesenkt und machte sich langsam auf den Weg nach unten. Er erkannte den Mann nicht, da er zu Boden blickte und seine Stiefel unlängst interessanter waren. Als er sich wieder in Bewegung setzte, konnte er aber einen Blick in die sich schließenden Wohnung erhaschen. Zwei schöne Frauen sah er dort, eine große blondhaarige Dame mit einem ebenso blonden Kleinkind auf dem Arm, sowie eine braunhaarige Senora mit einem kleinen Bündel auf dem Arm, bei dem man auch dichtes dunkles Haar erahnen konnte. Da die Senora kein Kopftuch trug, konnte er sich denken dass der kleine Säugling noch sehr jung sein musste. Er wollte nicht unhöflich sein und starren, deswegen setzte er seinen Weg nach unten fort und murmelte ein kurzes Hola. Im Hauseingang angekommen atmete er erstmal durch. Er genoss seine Freiheit sehr und bemitleidete jeden, der diese nicht einmal in Ansätzen genoss. Wenn es nach ihm ginge, konnte er heute seine Arbeit bei der Werft kündigen, sich morgen als Packer bei den Schiffen etwas dazuverdienen, oder als Netzflicker bei den Fischern. Auch sagte ihm keiner, wie er sich zu kleiden hatte, da war das Bündel unter seiner Hängematte ausschlaggebend. Die Zwänge, Regeln, Attitüden und Verhalten der reichen Gesellschaft verstand er nicht. Wie konnte man das nur in Ansätzen freiwillig ertragen, geschweige denn seinen Kindern antun? Wie oft hatte er kleine Abbilder von reichen feinen Leuten gesehen, die an der Hand geführt wurden, vielleicht höchstens sechs Jahre, in Seide und Brokat gekleidet, so steif, dass sie sich kaum bewegen konnten. Das war doch kein Leben! Er stieß wütend den Rauch aus. Ihm ging es gut!
Etwas verträumt stand er dort und lauschte ins Haus, sodass er gar nicht mitbekam wie die rüstige Matrone sich vor ihm aufbaute. Sie faltete ihn zusammen, aber das war nicht schlimm, das nahm er gern in Kauf. Er hatte früh gelernt bei solchen Situationen auf Durchzug zu schalten, schuldbewusst zu gucken, ganz oft „Si Señora“ oder „Señor“ zu sagen und das Donnerwetter auszuhalten. Auch diesmal funktionierte es wieder, ein großer Beutel Kupfer in seiner Tasche gab ihm recht. Er kaufte für sich und die drei anderen ein üppiges Frühstück. Wein, frisches Brot, Käse, Wurst, Oliven, die ihm recht teuer vorkamen, und noch zwei Stücken Mohnkuchen, die sie teilen würden. So saßen die Männer wenig später alle auf einem Mauervorsprung in einer Seitengasse und aßen.


“Ich sags euch, sie war eine Señora Castellani, wenn ich es euch doch sage! Sie stand plötzlich in der Wohnung, in ihrem Kleid aus feinem Stoff, dem ausufernden Rock und Saum und nahm den ganzen Raum ein mit ihrer Art. Das haben die alle einfach im Blut, sie ziehen die Aufmerksamkeit auf sich, auf die eine oder andere Weise. Sie wollte eine Kommode verrücken und ist wohl umgeknickt. Natürlich haben wir ihr dann geholfen, aber sie vorher davon abbringen und sagen, dass diese Idee nicht ideal sei, trauten wir uns nicht. Als dann aber noch der Señor Castellani dazukam und die beiden das Heft in die Hand nahmen, haben wir nur noch still und schnell gearbeitet. Die Stimmung wurde merklich kühler, als die hohen Herrschaften zugegen waren.”
Der Nachmittag war dann nicht so unterhaltsam für die Männer von der Werft. Unter den Augen der Señora, trauten sie sich nicht, ihre derben Unterhaltungen zu führen. Sie war zwar höflich, kurz angebunden und bestimmend zu ihnen allen, auch dem Señor, aber natürlich wussten sie, dass sich das jederzeit ändern könnte. Man hörte doch so einiges über diese Familie. Sich den Kopf darüber zu zerbrechen, was sie hier machten, für wen und in welcher Beziehung hier die Herrschaften standen, war einfach nicht zuträglich. Also schnell und gewissenhaft die Arbeit erledigen und dann fort.

“Ernesto! Bist du bescheuert, das kannst du nicht machen!” “Fabrizio, jetzt halt dein Maul und trag weiter!” Fabrizio lief der Schweiß den Rücken herunter. Nicht nur vom Tragen der Kommode, welche sie durch diverse Gassen und Hinterhöfe schleppten.
“Wenn das rauskommt, kriegst du solchen Ärger!” “Pass mal auf, das Zeug sollte alles auf den Müll oder zu den Waisenhäusern. Da kann man doch mal schnell den Überblick verlieren, welches Stück weggeschmissen werden sollte und welches nicht. Und vielleicht ist bei einem ja der Fuß abgebrochen und es musste jetzt entsorgt werden. Stell dich nicht so an. Weißt du überhaupt das sowas wert ist?”
“Es ist mir egal, ich will damit nichts zu tun haben. Gib mir die drei Kupfer und ich haue ab.” Nachdem er die drei Münzen eingesteckt hatte, verschwand Fabrizio.
Vielleicht hatte Ernesto recht. Er behauptete, für das Teil bekomme man noch locker drei oder vier Silber bei dem richtigen Mann. Und vielleicht kam es nicht raus, aber Fabrizio wusste, dass es bestimmte Dinge in Jarlow gab, die man einfach nicht tat. Und das hier gehörte ganz sicher dazu. Es war schon dunkel und sie befanden sich in den schmuddeligen Gassen des Hafenviertels. Hier kannte sich Fabrizio aus, aber irgendwie kamen ihm die Gassen diesmal unheimlicher vor, die Schatten irgendwie dunkler, die Leute bedrohlicher und die Hauseingänge tiefer. Er musste sich komplett frei machen davon, das Geld spenden. Welch ein Glück, vor seiner Stammtaverne saß der einbeinige Carlos, ein alter Seemann. Das war die Gelegenheit. Mit einem seligen Lächeln ließ Fabrizio die Münze aus seiner Hand mit einem einzigen Kling in die Holzschüssel fallen. Daraufhin betrat er die Schenke und verließ sie erst Stunden später, betrunken und mit weggespülten Gewissen, auf dem Weg in seine Hängematte.
Auf einem dicken Balken sitzend, hoch oben über dem trockenen Boden der Werft, hatte Fabrizio Hunger und war müde. Das ständige Gebrabbel von Ernesto über den Erlös der Kommode von gestern nervte Ihn. Wie viel Geld Fabrizio doch durch die Lappen gegangen sei, wäre er mit zum Hehler gekommen. Was er alles gestern noch mit dem Gewinn angestellt, welche Lokale er besucht habe. Dass ihm immer noch alles weh tue.
Unkonzentriert ließ Fabrizio den Blick schweifen. Das Werftgebäude war klein, zwei Schiffe konnten hier nebeneinander gebaut werden. Das Schiff, an dem er arbeitete, ruhte auf Rollen, sodass es bei Fertigstellung durch die Werfttore in das Hafenbecken gleiten konnte, welches sich direkt im Anschluss an die großen Schiebetüren am anderen Ende des Gebäudes befand. Hier oben in der Takelage konnte der pfiffige Arbeiter, falls er so klug war und Seil mitgenommen hatte, auch mal ein Schläfchen halten, ohne dass ein Vorarbeiter hinter ihm stand und den Knüppel schwang. Die ganze Werft war von innen größer, als sie von außen schien, was daran lag, dass sie auf Höhe der Wasserkante gebaut worden war und so die anderen Nachbargebäude nicht überragte.
In den Übergängen der Wände zum Dach nisteten viele Schwalben, die im Frühjahr viele fiepende kleine Piepmätze großzogen. Jetzt im goldenen Herbst, war davon aber wenig zu hören. Was zu hören war, war das emsige Hämmern, Sägen und Rufen der Arbeiter. Die Geräuschkulisse wurde jäh zerrissen von einem schrillen Pfiff aus einer der Pfeifen der Vorarbeiter. Meist bedeutete dies irgendeine Ankündigung, Bestrafung oder sonstige Schikane. Mal gucken, was sie sich diesmal wieder hatten einfallen lassen. Die Rede des Vorarbeiters, welcher von einigen Leuten umringt wurde, kam nur ganz schwach hier hoch geweht.
“...und deshalb wird Señor Castellani bei uns …”


Stille… die Welt um Fabrizio wurde ruhig und die Zeit wurde zäh wie Honig. Die Bedeutung der Worte sickerte langsam in seinen verkaterten Kopf. Ein Castellani, hier in der Werft - das konnte nur eins bedeuten, sie waren erwischt worden. Fabrizio wurde kalkweiß… seine Ohren klingelten und er verspürte Herzrasen. Wie versteinert blickte er zu Ernesto, der gerade mit Müh und Not versuchte, nicht vom Balken zu fallen. “Wir sind fällig! Wir müssen abhauen, los!” Die beiden guckten sich voller Panik an und kletterten im halbfertigen Mast des Schiffes weiter nach oben. An einem schweren Tau, welches ein Kippen des Schiffsrumpfes verhindern sollte, kletterten sie bis zur Werftmauer und quetschen sich durch die Dachluken. Dort verschnauften sie erstmal. Fragen über Fragen drängten sich auf: Wie konnten sie uns so schnell finden? War die Kommode wirklich nur für ein Waisenhaus bestimmt gewesen? War dort vielleicht ein doppelter Boden drin? Hatte der Hehler sie verpfiffen? Wie konnte man untertauchen? Was konnte im schlimmsten Fall passieren? Sie waren sich einig, sie mussten untertauchen. Getrennt und am besten nicht bei Bekannten …
Fast zwei Wochen später lief Fabrizio auf einer gut ausgebauten Straße Richtung Norden. Die Nacht hatte er am Strand verbracht, wie so viele Nächte die letzten Wochen. Unter einem umgedrehten Ruderboot hatte er Unterschlupf gesucht. Auf seiner Haut trocknete das Meerwasser, mit welchem er sich gewaschen hatte. Das Umland von Jarlow-Stadt war malerisch, die weißen Sandstrände, das blaue warme Meer, die kleinen Fischerdörfer, die sich wie verschlafene Perlen an der Küstenstraße aneinander reihten. Es war schrecklich! Fabrizio magerte ab, es gab kaum Gelegenheiten auf den Plantagen hier im Norden noch Geld zu verdienen. Die Ernten waren durch. In den kleinen Dörfern fiel man direkt auf als Außenstehender, man wurde beäugt und misstrauisch, aber zumindest konnte man die Dörfler direkt erkennen. Direkt von der Familie war niemand hier. Fabrizio hatte sich angewöhnt auf die Schuhe der Leute zu achten. Einen speckigen Wams konnte man anziehen, ein Kopftuch abnehmen oder in einen Umhang schlüpfen. Aber mal eben die Stiefel wechseln machten die wenigsten. Solange er nicht feine Lederstiefel bei abgeranzten Fischern sah, fühlte er sich einigermaßen sicher.
Er hoffte einfach, dass ein wenig Gras über die Sache gewachsen war. Außerdem war er einfach nicht für das Landleben geschaffen. In der Stadt konnte man überall einen Happen zu Essen bekommen, ein Kupfer verdienen oder irgendwo unterkommen, aber auf dem Land sah es schon wieder ganz anders aus. Bis zur Mittagsstunde wollte er auf der Einfallstraße nach Jarlow-Stadt sein, am Hinweisschild. Dort hatte er sich mit Gonzalo verabredet. Einem Kumpanen aus der Werft, den er schon lange kannte und dem er einigermaßen vertraute. Zumindest würde er ihn nicht für drei Kupfer verkaufen. Trotzdem war Fabrizio nervös. In der Ferne sah er Jarlow-Ciudad, sein Jarlow. Die vorrangig sandsteinfarbenen Häuser, die sich an den Hügel schmiegten, den Leuchtturm, der sich weit erhob, die steil ansteigende Straßen mit den großen schmucken Casas, die mehr weiß getüncht waren, um aufzufallen. Jarlow - seine Heimat. Wehmütig summte Fabrizio ein Lied vor sich hin.

“Fabrizio, bist du es?” Erschrocken wandte er sich um und sah in das fragende Gesicht von Gonzalo. Die Frage war längst nicht so weit hergeholt, wie man meinen sollte. Fabrizios Gestalt war die Definition von hager und drahtig. Ein speckiges, sonnengebleichtes gestreiftes Hemd hing schlaff an seinen schmalen Schultern herunter, eingetrocknete Ränder und Flecken zierten es und bildeten eine Patina, die mittlerweile eine tragende Rolle auf dem Hemd bildeten. Darüber trug er eine speckige lederne Weste, weite graue Hosen, ausgetretene knöchelhohe Stiefel. Um den Hals mit dem spärlichen fleckigen Bartwuchs legte sich ein blassrotes ausgewaschenes Halstuch. Er reihte sich somit ein in die Mode der Arbeiter am Hafen, wenn man hierbei von Mode reden konnte. Zusammen gingen sie ein Stück auf der Straße und Gonzalo reichte ihm eine Flasche aus seiner Segeltuchtasche, die er um die Schultern trug. Sie unterhielten sich und steuerten Richtung Jarlow-Stadt. Fabrizios Laune stieg in dem Maße, in dem sich die Flasche leerte.

“...und ich sag’s dir, er war nur zum Arbeiten in der Werft. Eine Woche lang, war morgens pünktlich da, ist abends wieder gegangen. Völlig hilflos und unnütz, wenn du mich fragst. Stand den ganzen Tag nur rum…. guckte hier mal bisschen in die Luft, drehte dort mal ein Werkzeug von rechts nach links, hatte die ‘Aufsicht’….aber hat keine Fragen zu dir gestellt. Wieso sollte er auch? Kennst du welche von denen?”
Von denen… denen… was hieß das schon, jeder kannte die Familie! Allen voran kannten die meisten die große Villa im Süden der Stadt mit den Parkanlagen des Costa- und Montagnepark. Und natürlich erkannte man die eine oder andere Persönlichkeit des öffentlichen Lebens. Aber eigentlich war es unmöglich, jedes Mitglied der Familie gesehen zu haben, geschweige denn kennengelernt zu haben. In allen Bereichen des jarlower Lebens war es möglich jemanden, mit dem allseits bekannten Nachnamen, zu treffen. Seien es Warenhändler, Etablissementbesitzer, Geschäfts- und Lebemänner, Politiker, Finanziers, Mäzene aber auch bürgerliche Professionen wie Weinkelterer, Tabakbauern, Zuckerbäcker, Parfümeure, ja sogar einen Hutmacher gab es den Gerüchten nach. Aber nein, kennen tat Fabrizio keinen von denen.
“Nein nicht wirklich, wollte auch nur wissen, wieso der bei uns aufgetaucht ist. Ist schon bisschen seltsam. Aber gut, dass er wieder weg ist.”
Für Fabrizio war heute ein guter Tag, er konnte wieder nach Jarlow-Ciudad und in seiner geliebten Werft arbeiten - so sie ihn nach seinem überstürzten Urlaub zurücknahmen. Es war lange noch nicht abends, er hatte leicht einen sitzen und keine Termine. Das Leben in Jarlow konnte so schön sein.

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Aus dem Leben eines Straßenjungen


Zeit: Frühjahr 219 ndGFdB
Wichtige Personen: Abril
Wichtige Orte: Armenviertel, Marktplatz, Hafenviertel

Abril schlug die Augen auf und fühlte gleichzeitig instinktiv nach dem schartigen Messer, das die ganze Zeit, in der er geschlafen hatte, in seiner Hand unter der schmutzigen Decke gelegen hatte. Er blinzelte und schätzte, dass der Morgen bereits einige Stunden angebrochen war. Höchste Zeit, um sich auf den Weg zu machen. Er verstaute das Messer in seinem Hosenbund, was weniger gefährlich war, als man annehmen mochte, da es recht stumpf war. Es diente nicht wirklich der Verteidigung, aber wenige Straßenkinder besaßen überhaupt eines, und so erfüllte es doch immerhin den Zweck, dass er andere Comadrejas damit davon abhalten konnte, ihm seine Tagesbeute streitig zu machen. Sollte ihn einmal ein Legionario oder ein anderer Erwachsener erwischen, würde er eh keine Chance haben, außer, er konnte sich freistrampeln und seine kurzen Beine trugen ihn schneller durch die Menschenmassen der gut besuchten Orte in Jarlow-Ciudad, an denen er sich besser auskannte als die meisten. Es gab eigentlich keinen Verschlag, keine Sackgasse, keinen tiefen Hauseingang und kein Holzfass in der Nähe des Marktes, um die er nicht wusste und die ihm nicht das ein oder andere Mal bereits Schutz geboten hatten.
Nun rollte er die Wolldecke, die an einigen Stellen bereits arg abgewetzt war, zusammen und verstaute sie hinter einem losen Brett des Verschlags, in dem er oft nachts Zuflucht suchte. Er war jedoch nicht so dumm, jede Nacht hierher zurückzukehren, und so gab es ähnliche Verstecke im ganzen Armenviertel verteilt, in denen er eine spärliche Decke vor neugierigen Blicken verwahrt hielt. Selbst im Hafenviertel kannte er zwei Stellen, an denen er normalerweise unterschlüpfen konnte. Doch dies tat er nur, wenn es sich nicht vermeiden ließ, da ihm die Straßen diesen Viertels des Nachts deutlich weniger geheuer waren. Hier konnte es deutlich häufiger passieren, dass man an die falschen Leute geriet. Im Armenviertel hingegen gab es untereinander eine Art Ehrenkodex, dass man einem nackten Mann, schon gar nicht einem Kind, in die Tasche greifen durfte. Und dass Abril von der Hand in den Mund lebte, konnte man ihm deutlich ansehen.
Sein dunkles Haar war aus Schutz vor Ungeziefer kurz gehalten. Er schnitt es sich mit dem stumpfen Messer oft selbst, sodass es eher zottelig aussah. Seine Kleidung bestand aus einer mittlerweile viel zu kurzen Hose, die davon zeugte, dass er im letzten Jahr zwar in die Höhe gewachsen war, seine kargen Mahlzeiten allerdings wenig für ein Wachsen seiner Taille getan hatten. Ein einfaches Hemd bedeckte seinen Oberkörper, das vor Dreck starrte. Darüber trug er eine Weste, die sein ganzer Stolz war. Er hatte sie über eine lange Zeit aus Lederresten, die er zusammengeklaubt hatte, selbst angefertigt und sie bot ihm wenigstens ein wenig Schutz vor dem Wetter. Zumindest jetzt im Frühling war sie ihm ausreichend. Bis zum Herbst würde er sich etwas einfallen lassen müssen, irgendwo einen Mantel stehlen müssen oder sich sonst irgendwie darum verdient machen. Aber noch hatte er zu viele Monate vor sich, um sich darum bereits zu sorgen. Abril pflegte nie weiter als eine halbe Woche vorauszudenken, weil ihn sein junges Leben bereits allzu oft Unbeständigkeit gelehrt hatte. An den meisten Tagen lebte er sogar voll und ganz im Jetzt. Er verließ sich auf nichts und niemanden außer sich selbst.

Wenig später konnte Abril die Herzogin Odalgar Statue auf dem zentralen Marktplatz erspähen, dem er sich von Osten aus genähert hatte. An einigen Tagen machte er einen Umweg über das Hafenviertel, aber heute war keiner der Tage, an dem er sich davon viel versprach. Er hatte gehört, dass Teile der Legion Naval gestern mit einem großen Schiff heimgekehrt waren. Da war es ihm viel zu riskant nach tumben Touristen Ausschau zu halten, die ob der Begeisterung ein so malerisches Fleckchen Erde zu betreten oftmals besonders unaufmerksam waren und gar nicht bemerkten, dass sie ihren Geldbeutel bereits verloren hatten, bevor sie auch nur den Weg in ein Gasthaus erfragen konnten. Im Gegensatz zu den in rot gekleideten Männern der Legion Extranjera konnte man bei den blau uniformierten Mitgliedern der Legion Naval deutlich seltener auf Milde oder ein zugedrücktes Auge hoffen. Die Männer der Fremdenlegion wussten in der Regel, wie es war jenseits des Gesetzes aufzuwachsen und hatten ab und an ein mildes Herz für Straßenkinder wie ihn. So war es bereits vorgekommen, dass einer Abril zwar lautstark zurecht wies und ihm den gestohlenen Geldbeutel abgenommen hatte, doch bevor er ihm die Gelegenheit gab, zu entkommen auch noch einige Münzen unbemerkt wieder zugesteckt hatte. In der Bevölkerung wurde daher oft behauptet, die Legion Extranjera sei nicht sonderlich effektiv darin in den Straßen Jarlows für Ordnung zu sorgen. Doch war dies nur ein Teil der Wahrheit, da sie durch derartiges Handeln eine Ordnung ganz anderer Art aufrecht erhielten und Jungen wie Abril eine Chance gaben.

Abril atmete nun tief durch die Nase ein. Spätestens wenn man den Schuran überquerte wusste man, dass man das Armenviertel hinter sich gelassen hatte. Doch auch die Nase verriet es deutlich. In dem Viertel selbst bemerkte Abril es zwar nie, da er damit aufgewachsen war. Aber jeder, der den Gestank der Gosse nicht derartig gewöhnt war, rümpfte im besten Fall die Nase. Leute, die ihre Gesichtszüge weniger unter Kontrolle hatten, wandten sich mitunter angeekelt ab, was selbstverständlich wenig effektiv war, da der Geruch allgegenwärtig war. Andere, denen es vollkommen egal war, wie man sie im Armenviertel empfing, zogen gar ein parfümiertes Tuch vor Nase und Mund. Diese waren dann aber gut beraten das Viertel schnell zu durchqueren und keine Hilfe zu benötigen, da man Menschen, die sich so offenkundig für etwas Besseres hielten, nicht sonderlich positiv gegenüber stand. Nun aber schlugen Abril immer mehr andere Gerüche entgegen. Je näher man dem Markt kam, desto mehr nahm der Lärm zu und desto mehr konnte man durch die Nase wahrnehmen. Es war ein buntes Potpourri aus Gewürzen und Kräutern, frischen Teigwaren, dem strengen Geruch frisch gegerbten Leders und dem Parfum der oftmals gut betuchten Einkäufer. Abril begrüßte dieses Wirrwarr an Gerüchen, da sie in der Regel seinen eigenen nicht sonderlich angenehmen Geruch überdeckten und halfen, dass er nicht erspäht wurde. Mit seinen neun Jahren war er noch klein genug, dass er unterhalb der Sichthöhe der meisten Erwachsenen hindurch huschen konnten, jedoch war er genau groß genug, dass seine kleinen flinken Händen die Geldbeutel, die die meisten zwischen Brust und Taille verwahrten, um ein paar Geldstücke erleichtern konnte. Er war nie so gierig, dass er je einen ganzen Beutel abschnitt, zumal er wusste, dass er in dem Falle auch, so er erwischt werden sollte, mit weniger Milde zu rechnen hätte. Auch war er nicht so töricht, dass er die falschen bestahl. Wie viele Comadrejas, was gleichzeitig Wiesel, aber auch Langfinger bedeutete und die kleinen Bewohner Jarlow-Ciudads aus dem Armenviertel nur allzu treffend beschrieb, hatte er sich darauf spezialisiert nach den fremdländisch aussehenden Marktgängern Ausschau zu halten. Er wusste genau, wer rund um den Marktplatz wohnte. Diese Menschen zu bestehlen wäre äußerst dumm gewesen, da man sie dann doch früher oder später wiedersah. Erspähte er hingegen Stoffe und Kleidung, die derzeit in Jarlow nicht Mode waren, sahen die Chancen besser aus.
Der Vorteil an den Besuchern der Stadt war zudem, dass sie oft deutlich weniger misstrauisch als die Einheimischen waren und sich deutlich besser ablenken ließen.

Als die Sonne bereits hoch am Himmel stand schlenderte Abril zufrieden Richtung Norden in das Hafenviertel. Er hatte es sich zur Angewohnheit gemacht dort seine Beute umzusetzen. Zum einen beäugten die Händler einen Jungen wie ihn hier nicht so kritisch wie am Markt, der auch die Grenze zu den besseren Wohnvierteln bildete. Zum anderen gab es hier etwas günstigere Preise und den besseren Fisch. Außerdem genoss der Junge es am Pier zu sitzen und die Beine baumeln zu lassen. Manchmal betrachtete er dann die Schiffe und fragte sich, was man wohl erlebte, wenn man mit ihnen in fremde Länder fuhr. Gleichzeitig war es für ihn undenkbar je Jarlow-Ciudad zu verlassen. Hier kannte er sich aus. Zwar hatte er niemanden, den er Familie nennen konnte, aber gerade deswegen war ihm die vertraute Umgebung umso wichtiger. Selbst das Chaos des Marktes oder das geschäftige Treiben, wenn ein großes Handelsschiff in den Hafen einfuhr, gaben ihm eine Form der Ruhe, weil er sich mit diesen Dingen auskannte.
So saß Abril also nun im Schatten einer Verladekiste, die demnächst auf eines der Schiffe gelangen werden würde. Einige Hafenarbeiter hatten ihn zur Kenntnis genommen, aber wohl berechtigterweise als harmlos eingestuft und gewähren lassen. Zu dieser Jahreszeit war es noch nicht so drückend heiß wie im Sommer, übrigens ein weiterer Grund, weshalb Abril seine Freizeit gern im Hafenviertel verbrachte, da hier stets eine angenehme Brise Richtung Meer her wehte. Dennoch stand die Sonne zur Mittagszeit schon so hoch und war so wärmend, dass man den Schatten vorziehen konnte, und dies tat Abril. Zudem war er weniger sichtbar im Schatten, eben nur ein kleiner vor Schmutz grauer Junge in einer grauen Umgebung.

Er musste ein wenig eingeknickt sein, denn kurz darauf hörte er einige Männerstimmen recht in seiner Nähe. Sein träges, verschlafenes Hirn brauchte ein wenig, um die Worte aufzunehmen, die an sein Ohr drangen.
„...einigen werden.“ „Claro que si, ich weiß, dass wir bereits auf eine lange Zeit guter Geschäfte zurückblicken können.“ Abril erschauderte etwas. Er kannte zwar die Stimmen nicht, aber die Art, in der geredet wurde, gefiel ihm gar nicht. Er blinzelte ohne sich zu bewegen in alle Richtungen, um den besten Fluchtweg auszumachen. Dann setzte er sich ganz langsam in Bewegung, bloß keine Aufmerksamkeit auf sich ziehend. „Weißt du, du erinnerst mich an jemanden“, konnte Abril nun hören und erbleichte. Er ahnte, was nun kam. „Mein kleiner Bruder, der hat genau diesen Optimismus, den du versprühst.“ Abril war froh, dass er mittlerweile zwischen den Verladekisten abgetaucht war. Er kauerte sich so klein wie möglich zusammen und hielt sich die Ohren zu, ganz bedacht auf seinen eigenen Atem. Er wollte nicht hören, was als nächstes geschah. Auf keinen Fall wollte er Zeuge einer Szene werden, die keinerlei Zeugen zuließ. Panik ergriff ihn und er schaukelte seinen Körper leicht vor und zurück. Sein Herz schlug ihm nun bis zum Hals, er wagte jedoch nicht seine Hände von den Ohren zu nehmen. Wenn die Zeit doch nur schneller verging, wenn sie ihn doch bitte nur nicht bemerkt hätten, wenn doch…
Abril gefror das Blut in den Adern, als eine grobe Hand ihn bei der Schulter packte und ihn herum riss. Einer der Hafenarbeiter von vorhin grinste ihn von oben breit an. Abril starrte in das Gesicht und vermochte kein Wort zu sagen,der Mund hing ihm offen. Bei der kurzen Musterung vorhin war ihm nicht aufgefallen, dass der Mann unter seiner schlichten schwarzen Kappe ein schwarzes Kopftuch trug. Jetzt jedoch nahm er es wahr. „Ich habe nichts gehört, ehrlich nicht!“, stammelte der Junge nun. „Ich habe nur Siesta gemacht.“ Der Mann grinste breiter. Jetzt, als Abril noch genauer hinguckte, sah er auch, dass die Stiefel aus einem viel zu feinen Leder waren, als dass ein echter Hafenarbeiter sie sich je würde leisten können. „Senor Castellani, ich bitte vielmals um Verzeihung. Ich bin nur ein kleiner Junge, der keinen Ärger will. Ich habe mir die Ohren zugehalten und nichts gehört, ich schwöre es bei Juan!“ Der Mann grinste ihn breit an und zog ihn nicht unsanft auf die Beine. „Ich weiß“, sagte er. „Ich schätze ehrliche, kluge Jungen, die wissen wann man weghört. Morgen früh, sechste Stunde hier. Komm nicht zu spät. Ich will sehen, was noch in dir steckt.“ Und er wandte sich wieder ab und ließ einen vollkommen verdatterten Abril zwischen den Kisten zurück, der nicht wusste, ob das gerade der beste oder schlimmste Moment seines Lebens gewesen war.

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Ein Abend unter Waisen - Aus den Memoiren eines Monseñore


Es war schon spät am Abend, als Manuel und Miguel sich in einer Taverna im Hafenviertel trafen. Die Straßenlaternen waren schon entzündet worden und die ersten Señoritas platzierten sich in ihren übertrieben bunten Kleidern nebst ebensolchen. Dabei verströmten sie einen aufdringlichen, aber zugleich auch betörenden Duftcocktail verschiedener altbackener Parfüms, welche man aufgrund der preislichen Erschwinglichkeit nun in verschwenderischer Manier von den Stiefeln bis zum Faszinator aufgesprüht hatte. Das Ergebnis, die ungeliebte Konkurrenz an der benachbarten Laterne dabei möglichst mit der eigenen Wolke zu überdecken, war hierbei bestimmt kein Zufall. Auch fiel einem versierten Kenner dieser Szene sofort auf, dass das Alter und die Menge des aufgetragenen Duftwassers direkt zusammenzuhängen schienen. Manuel und Miguel war dies einerlei, denn die mondänen Damen direkt am Hafen entsprachen nicht ihrer Gehaltsstufe. Wenn es die beiden jeweils nach einer lasterhaften Nacht sehnte, so begaben sie sich eher in eins der günstigen Casas, wo man bei der Dama de la Casa auch noch anschreiben konnte, wenn das Kupfer mal gerade wieder einen Bogen um Einen zu machen schien.
Manuel saß bereits an einem kleinen Tisch im hinteren Bereich der Taverna und winkte Miguel zu sich heran, ohne zu viel Aufmerksamkeit zu erregen. Immerhin waren sie Orphanitos der Familie Castellani und als solche gleichermaßen von Vielen sowohl gefürchtet als auch gehasst.
Miguel nickte nur spröde, ließ sich auf den Hocker fallen und murmelte: „Ich sehe, du trägst immer noch dieselben Lumpen wie vor einem Jahr. Warst du dir nicht vollkommen sicher, dass sich nach dem nächsten Auftrag alles zum Besseren wenden würde?“
Manuel grinste nur halb interessiert zurück und spottete: “Wenigstens kokettiere ich nicht ständig damit, jedes Halbkupfer gleich meiner gierigen Frau ins Dekolleté werfen zu müssen.“
„Wir kennen uns nun schon seit wir für Leonora arbeiten, Manuel.“ stellte Miguel etwas wehmütig fest. „Warum haben wir uns nie von unseren Leben davor berichtet?“
„Weil es traurig und armselig war und es unsereins nur durch die Gnade des guten Herrn Castellani aus dem Orphanario geschafft hat. Wir wären uns sonst wohl oder übel erst bei der Legión begegnet und wahrscheinlich als verwahrloste Vollwaisen gemeinsam direkt in die Sümpfe zur Wildenjagd geschickt worden.“ erwiderte Manuel sofort.
„Das weiß ich auch. Oder wir wären einfach auf der Straße gelandet wie die Meisten von uns. Ganz egal, denn vermutlich würden wir beide schon lange unterm Tisch der Ahnen sitzen und uns mit den Hunden um die Brocken, die sie uns von oben zuwerfen, streiten“, lachte Miguel.
„Im Grunde auch nicht anders als das Leben, welches wir nun führen“ ergänzte er rasch, den humorvollen Unterton verbannte er dabei schlagartig aus seiner Stimme.„
„Bevor du nun in unerträglichem Selbstmitleid versinkst, mein alter Freund, erzähle ich dir von meinem jungen Leben als Waise in Empinar el Codo. Vielleicht ist es hilfreich, die alten Narben nach so langer Zeit wieder etwas zu pflegen.“ Manuel wurde noch ernster und als Miguel ihm bestätigend zunickte, ergriff er wieder das Wort. „Ohne es genau zu wissen und eigentlich gebe ich einen Scheiß drauf, gehe ich davon aus, dass meine Mutter jung verwitwet war und mich mangels Einkünften ins Orphanario abschob, nicht zuletzt auch weil sich leichter ein neuer Mann finden lässt, wenn man keinen Bengel versorgen muss.“
„Woher willst du das so genau wissen, Manuel?“
„Der Monseñore im Orphanario erwähnte mir gegenüber, dass es meiner Mutter nun besser denn je ginge und sie sich einen reichen Kaufmann geangelt habe. Ich nehme an, dies war seine Art mich zu motivieren, mich mehr anzustrengen.“ Manuel hielt kurz inne und kratze sich unter seinem filzigen Krempenhut. „Hat ja schließlich gut geklappt! Seitdem ich wusste, dass mein Leben absolut bedeutungslos ist und nicht mal meine Mutter sich einen Dreck um mich schert, lernte ich eine Seite an mir kennen, die auch du schon oft erleben konntest.“
„Ich weiß sehr wohl, was du meinst. Du erleichterst sogar den ärmsten Pechvogel um seinen letzten Kanten Brot, wenn die Herrin ihren Kredit zurückhaben will. Manchmal denke ich, dass dein Herz so verschlossen ist wie Tyros Geldbörse gegenüber einem Barden.“ stellte Miguel fest.
„Nun, du bist auch nicht gerade eine Dona Consuela! Aber du hast natürlich Recht. Mitgefühl und Freundlichkeit helfen einem nun erst recht nicht weiter, wenn man als einer von zwei dutzend rotzfrechen Waisenjungen die Aufmerksamkeit des Monseñore erhaschen will. So machte ich mir mit nur sieben Jahren einen Ruf, der darauf hindeutete, dass ich mich stets durchzusetzen wisse und auch vor einem wohlplatzierten Tritt oder Schlag nicht zurückschrecke. Aber auch nach mehreren offiziellen Tadeln würdigte der Monseñore mich keines besonderen Blickes. Sein Augenmerk galt hauptsächlich dem etwas älteren Mitwaisen Luca, welcher mehrfach für die Beschaffung von für Kinder ungeeigneter Ware getadelt wurde. Luca glänzte besonders durch seine Vitalität und seine Schläue. Besonders groß oder kräftig war er hingegen nicht, konnte dies aber durch bildgewaltige Drohungen ausgleichen. Eines Tages bot ich dem Jungen Luca an, mit ihm gemeinsame Sache zu machen. Er sollte weiterhin seine Geschäfte erledigen und ich würde ihm dabei den Rücken freihalten. Der kleine Nichtsnutz verlachte mich jedoch und ging sogleich zum Monseñore und dichtete mir allerlei Schändlichkeiten an. In der darauffolgenden Nacht begab ich mich in die Kammer des Monseñore und entwendete diesem einen wertvollen Reliquienring, den der alte Zausel unachtsamerweise nicht weggeschlossen hatte. Ich wickelte den Ring in ein Leinentuch und versteckte ihn unter Lucas Matratze. Als dem Monseñore der Diebstahl am nächsten Morgen auffiel und alle Bewohner des Orphanarios sich in einer Reihe aufstellen mussten, schlug ich laut vor, dass man doch einfach alle Schlafstätten durchsuchen solle und den Ring dann schon wiederfinden werde. Leider bemerkte ich sofort, dass ich unmöglich wissen konnte, dass es sich um einen Ring handelt, da der Monseñore nur von einem wichtigen Gegenstand sprach. Komischerweise wurde das Spiel weitergespielt und es kam wie es kommen musste: Der Ring kam zu seinem Besitzer zurück und Luca wurde zur Strafe drei Tage am Tor des Orphanarios angebunden und danach an die Legión Extranjera übergeben. Sollten sie den kleinen Mistkerl doch zu einem guten Soldaten machen. Wenige Tage darauf bekam ich vom Monseñore einen aufwendig versiegelten Brief zugesteckt, auf dem mein Name stand. Es war der erste Brief, den ich je erhielt, aber es sollte nicht der letzte sein. Der Monseñore erklärte mir, es sei kein Zufall, nun diese Aufmerksamkeit zu erhalten und er wisse sehr wohl, was ich riskiert habe. Er schätze es sehr, wenn Worten auch Taten folgen. Ich vermute, dass er meine Intrige um Luca und den vermeintlich gestohlenen Ring sofort durchschaute. Aber er schien die dargebotene Hartnäckigkeit und den Ideenreichtum eines gerade einmal Siebenjährigen zu bewundern.
Als ich den Brief öffnete, staunte ich nicht schlecht, denn es fielen laut klirrend ein paar Kupferstücke heraus. Auf dem wertvollen Papier stand nicht viel, nur in etwa „Für den hoffnungsvollsten Kandidaten. Er möge sich stets bemühen.“ Signiert war mit Padrina L. Castellani.“
„Wusstest du sofort, dass Leonora Castellani dich als eine ihrer zukünftigen Orphanitos ausgewählt hatte?“ fragte Miguel.
„Es dauerte einige Zeit bis ich mein Glück begriff, aber es kamen weitere Briefe von Señora Castellani. Ich begann daraufhin, auf diese Briefe zu antworten und so erzählte ich ihr davon, dass ich nun drei Waisen unter meiner Kandare hatte und diese mir bei den kleineren Geschäften, die sich tagtäglich ergaben, behilflich seien. Eines Tages schickte ich meiner großzügigen Padrina sogar eine selbstgebaute kleine Holzschatulle mit aufwendigen Verzierungen, in welche ich ein Bündel des besten Tees des Viertels legte. Du kannst dir bestimmt vorstellen, wie schwierig es gewesen ist, diesen Tee zu bekommen!
Offenbar konnte ich meine Padrina immer wieder durch meine Taten und meine Entwicklung beeindrucken und so lud mich Leonora Castellani am Fiesta de los Muertos auf ihren Landsitz ein. Ich musste allerdings feststellen, dass neben mir noch einige weitere Jungen und Mädchen in meinem Alter geladen waren und jeder von ihnen um Leonoras Gunst buhlte. Die Schleimerei war noch niemals meine Kunst und deswegen hielt ich mich im Verlauf des Tages etwas im Hintergrund, bis Frau Castellani auf mich zuging und mir einen kleinen Samtbeutel überreichte. Ich nahm diesen etwas zögerlich an und entfernte das Lederband, welches den Inhalt vor mir verbarg. Ich schob meine Hand hinein und meine Finger ertasteten eine rasiermessersscharfe Klinge, an der ich mich sogleich heftig schnitt. Erschrocken riss ich die Hand zurück aus dem Beutel und Blut tropfte mir von meinen Fingern auf den wertvollen Eichenholzboden. Señora Castellani streichelte mir etwas grob über meinen Kopf und sagte „Söhnchen, sorg mir dafür, dass dies das einzige Mal sein wird, an dem dein Blut an dieser Klinge klebt“. Sie sollte recht behalten.“
Miguel hakt ganz aufgeregt nach: „Ist dies der Dolch, den du stets bei dir trägst?“
„Nein, natürlich nicht!“ entgegnete Manuel etwas erbost. „Mach deine Augen auf, Cabrón! Der Dolch war ein billiges Exemplar aus Mitraspera. Hab den verscherbelt, als ich meine Zeche im Casa Violetta nicht zahlen konnte. Bekam dafür aber nur ein paar Silber. Ich schätze, um einen dummen Jungen zu begeistern, reichte er dennoch aus.“
Manuel seufzte laut auf und griff zu seinem Kelch, aus dem er einen gütlichen Schluck Cerveza nahm.
„An diesem Tag wurde mir bewusst, dass ich künftig nur für diese eine Frau leben und arbeiten werde. Die Loyalität eines jungen Burschen kann überwältigend sein, ganz besonders wenn man stets auf der Suche nach einer mütterlichen Figur oder einem Vorbild ist.“
„Es kann nur ein Jahr später gewesen sein, als ich ebenso wie du zu Frau Castellani eingeladen wurde.“ merkte Miguel an.
„Ich erinnere mich sogar an deinen ersten Auftritt in meinem Leben. Ich war dem Monseñore erst kürzlich für eine stattliche Summe, eine Art Schutzgebühr, abgekauft und zur Ausbildung direkt an den Hof Leonoras gebracht worden. Dort kümmerten sich einige grobschlächtige Männer aus deren Entourage um mein Wohl. Man verstand Schläge allerdings als Komplimente und Beleidigungen als Belohnung für meine Taten. Frau Castellani sah ich monatelang nicht. Aber an dem Tag, als sie dich zu sich gebeten hatte, wurde mir der Umgang mit Pferden vermittelt. Ich sah dich, wie du aus dem Haus auf den kleinen Vorplatz tratest und voller Stolz deinen ersten Dolch in der Hand hieltest.“
„Welchen ich im Gegensatz zu dir nicht für eine Reitstunde verschachert habe und als Erbe für meinen Sohn hinterlassen werde.“ tadelt Miguel seinen Freund Manuel, welcher schnaubend kontert: „Na, dann soll er aufpassen, dass er sein ganzes Erbe nicht für weniger als eine Reitstunde eintauscht oder schlimmer noch, wirklich jemanden mit diesem mitrasperanischen Kinderspielzeug die Kehle aufschneiden will.“
Lachend unterbrachen die beiden alten Freunde ihre Unterhaltung und orderten eine weitere Runde Cerveza und ein paar kräftig marinierte Hähnchenflügel nach Art der Bauern mit viel Knoblauch und Meersalz. So saßen sie sich einige Augenblicke schweigend gegenüber, die Stille und das kühle Bier genießend, wissend, dass sie sich beide aufgrund ihrer Herkunft und Verpflichtung gegenüber Leonora Castellani so nah sind wie man sich als Männer nur sein kann. Man konnte vieles über die Orphanitos der Familie Castellani sagen. Sie würden die Aufträge erledigen, für die sich selbst die untersten Günstlinge der Familie zu schade wären. Sie würden keinen Anstand besitzen, da ihnen jegliche Kinderstube fehle. Sie würden es nie zu Wohlstand und Anerkennung bringen, da sie mit wenigen Kupfern bereits zufrieden seien. Aber neben all diesen Anschuldigungen, über die das gemeine Volk sich gerne die Mäuler zerreißt, gibt es auch zwei unumstößliche Wahrheiten:
Zuerst gibt es unter den Orphanitos eines Padrino oder einer Padrina in der Regel kein Konkurrenzdenken, da sie sich als Gleiche unter Gleichen sehen. Die Vergangenheit verbindet eben jene, welche von Geburt an von den Ahnen meist nicht gesehen werden können.
Der wichtigste Umstand ist aber die Möglichkeit, sich aus dem Sumpf der Bedeutungslosigkeit emporzuheben, indem die Familie Castellani den Orphanitos ihre Gunst und ihr Vertrauen zukommen lässt.
Wenige Orphanitos wurden in der langen Geschichte Jarlows jemals echte Adoptivkinder der Familie, wenige kamen zu Geld und Unabhängigkeit. Jedoch begegnet man ihnen meist auch mit einer Mischung aus Furcht und Respekt, denn der Grund für ihren Besuch ist selten ein angenehmer.
Als Manuel mit seiner Geschichte fortfahren wollte, trat ein kleiner Mann mit großem Hut an den Tisch heran und flüsterte ihm undeutlich etwas ins Ohr. Manuel nickte entschlossen und überreichte ihm eine Handvoll Münzen.
„Ich denke, wir sollten unsere Hühnerflügel schnell abnagen und unser Cerveza hinunterstürzen. Soeben erfuhr ich, dass Álvaro ein paar Straßen weiter bei seiner Geliebten gesehen wurde. Dem Pendejo werden wir heute Nacht noch einen spontanen Besuch abstatten und Leonoras Silberlinge zurückholen. Oder Álvaros Finger oder die seiner Geliebten. Don Vito möge mich verdreschen, wenn der Kerl morgen noch mit lauter Kehle „Bretonische Mädchen“ singen kann.“
Ein letztes Mal stießen Manuel und Miguel an diesem Abend mit ihren Krügen an, zahlten daraufhin die Zeche beim vollbusigen Schankwirt und verschwanden hinter der nächsten Straßenecke in der Nacht.

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Von Kanonenkugeln und Cremetörtchen


Zeit: Frühjahr 220 ndGFdB
Wichtige Personen: Silvio Harinero - Bäckermeister der Mohnbäckerei, Mann von Lucía
Sofía - ehemalige Orphanita der Leonora Castellani, nun Hausmädchen in der Casa Panificadora
Wichtige Orte: Casa Panificadora

Es ist ein noch trüber, grauer Freitagmorgen, einer jener Tage im Frühjahr, da der Winter in den Nächten noch mit letzter Kraft die eisigen Klauen ausfährt, und man selbst in Jarlow beinahe in Richtung der Null-Grad-Marke rutscht, man aber mit den ersten Strahlen der morgendlichen Sonne erahnen kann, dass der Frühling Einzug erhält. Die ersten Frühblüher recken schon die frischen grünen Köpfchen durch das alte Laubwerk des vergangenen Jahres, welches noch zuhauf an den Rändern der Straßen liegt, die Vögel zwitschern deutlich vernehmbarer als noch die vergangenen Wochen und es riecht nach Gras und frischen Kräutern. Jedenfalls wenn man sich außerhalb von Jarlow-Ciudad aufhält. Innerhalb der Stadtmauern wechseln die Gerüche fast vollkommen jahreszeitenunabhängig mit der Tageszeit und dem Ortsteil, in dem man sich gerade aufhält.

Einen besonders betörenden Geruch verbreitet schon des Morgens die kleine Mohnbäckerei in der Casa Panificadora am Marktplatz. Silvio Harinero ist Bäcker aus Leidenschaft. Er lernte das Handwerk schon von seinem Vater und dieser von dem seinem. Soweit er weiß, hat seine Familie schon Brot gebacken, als Jarlow-Ciudad noch nicht mal ein kleiner Möwenschiss auf der Landkarte war. Jedenfalls behauptet er das gerne. Aber eigentlich ist das auch unerheblich - denn der Erfolg scheint ihm Recht zu geben. Seine Mohnbäckerei läuft ausgesprochen gut. Die Menschen nehmen morgens lange Schlangen in Kauf, um Silvios frisches Mohnbrot oder einen süßen Mohnzopf zu ergattern. Auch die Kuchen und vor allem die kleinen Gebäckteilchen seiner Gattin Lucía, die des Nachmittags frisch und duftend in der Auslage landen, erfreuen sich großer Beliebtheit.
Eins der beliebtesten Produkte in der Mohnbäckerei sind aber die „Balas de Cañón“, kleine Runde, leicht süßliche Mohnbrötchen zu zehn Stück in einer Tüte, die einzeln genau in den Mund passen und wunderbar fluffig weich auf der Zunge zergehen. (Als Dame von Welt sollte man allerdings vielleicht doch einmal abbeißen, um nicht mit unschicklich dicken Backen kauend erwischt zu werden.) Man dippt die „Kanonenkugeln“ gern in herzhafte Cremes und Weichkäse oder auch inKonfitüre, wenn man es lieber süß mag. Angehörige der Legión Naval erhalten übrigens 20% Rabatt auf die Balas de Cañón.

Auch an diesem Freitagmorgen, noch kurz vor den ersten Sonnenstrahlen, war Silvio schon wieder dabei, Balas de Cañón zu rollen. In den sehr frühen Morgenstunden, zu der Zeit, wo sich selbst die Ratten und die streunenden Katzen in Jarlow Stadt mal für einen Moment eine Verschnaufpause zu gönnen scheinen, sieht Silvio häufig den Señor Castellani heimkehren, der mit seiner kleinen Familie in einer der Wohnungen über seiner Backstube wohnt. Dieser versäumt dann nie, noch eine Tüte Balas de Cañón für seine Frau mitzubringen, und wenn sie noch nicht fertig sind, dann wartet er eben solange. Dass das Geschäft dann eigentlich noch nicht geöffnet ist, tut in diesem Fall natürlich nichts zur Sache. Er ist nicht sehr gesprächig, der Señor Castellani, aber äußerst höflich. Und Silvio ist es gewohnt, keine Fragen zu stellen. Er weiß, dass dieser Kunde eher nicht zu der Sorte gehört, mit dem man belanglose Informationen über die Nachbarn austauscht, so wie das seine liebe Gattin Lucía so gerne tut, wenn sie die Kundschaft bedient. Aber das ist Silvio auch eigentlich ganz recht so.
Auch an diesem Morgen wartet Marx „Marcelo“ Castellani schweigsam, bis Silvio die erste Fuhre Kanonenkugeln dampfend aus dem Ofen holt. Silvio fallen die schmutzigen Hände auf, die der Señor Castellani sich mit einem Stofftaschentuch zu säubern versucht, bevor er nach der Tüte greift. Auch das eine Auge wirkt ein wenig geschwollen, so als ob da am nächsten Tag ein ordentliches Veilchen prangen würde. Aber Silvio sagt nichts und wünscht dem Señor einen guten Tag. Silvio kann wegsehen.

Kurz darauf macht sich Sofía, das Hausmädchen in der Casa Panificadora, auf den Weg zum Markt. Die Sonne schickt gerade ihre ersten vorsichtigen Strahlen zur Erkundung über den Horizont. Marcelo und sie verpassen sich nur um wenige Augenblicke. Silvio sieht sie zügigen Schrittes und mit einem großen Korb am Arm an seinem Auslagenfenster vorbeieilen, nicht, ohne ihrem Nachbarn noch kurz zuzunicken.
Am Markt angekommen, schickt sie sich zu einer kleinen Einkaufsrunde an, denn es haben sich spontan Gäste für den Nachmittag bei Leanna Castellani angekündigt. Sie handelt hier den Käsehändler ein wenig runter, ersteht dort eine große Korbladung an Obst und wirft dem nächsten Händler unverhältnismäßige Preiserhöhungen vor.
„Señorita, was soll ich machen?“ Er breitet in einer typischen Geste jarlower Hilflosigkeit die Arme aus. „Die Olivenernte war dieses Jahr ausgesprochen knapp!“
Zähneknirschend zahlt Sofía den verlangten Betrag - aber wählt nur die kleinsten und schartigsten Kupfermünzen aus - denn was wäre ein anständiger jarlower Haushalt ohne Oliven?
Auf dem Rückweg stellt sie sich ans Ende der Schlange vor der Mohnbäckerei, die inzwischen geöffnet hat, um einen Mohnzopf für die Herrschaften zum Frühstück zu erstehen. Während sie wartet, hört sie die anderen Kunden in der Schlange tuscheln.
„… ich habe mich wirklich darauf gefreut. Wann hat es das letzte Mal eine solch große Hochzeit gegeben? Das hätte meine Umsätze mit Sicherheit in die Höhe getrieben, bei den vielen Gästen, die erwartet wurden ...“
„Claro que sí, aber überleg doch mal … es waren 13 schwarze Raben, die auf die Statue der Herzogin Odalgar geschissen haben! Der Nachbar von Eugenias Cousin zweiten Grades hat sie gezählt! Und die Rathausuhr, die vor zwei Wochen plötzlich von alleine wieder angefangen hat zu schlagen … nachdem sie bald ein halbes Jahr stillstand, weil Javier beim Putzen sein Lappen ins Uhrwerk gefallen war und er ihn nicht mehr rausbekommen hat? Und sie sich nicht einigen konnten, wer die Reparatur bezahlen muss?“
„Vergiss nicht die Krabbenplage bei Mala Suerte. Antonias Mann hat sich den Oberschenkelhals gebrochen, als er auf einem dieser Mistviecher ausgerutscht ist …“
„Stimmt. Señor Castellani hat richtig entschieden, die Hochzeit zu verschieben. Unter solchen Vorzeichen sollte lieber kein Jawort gegeben werden!“
„Darf es außerdem noch etwas sein?“ unterbricht Silvio das belauschte Gespräch und reicht Sofía den eingepackten Mohnzopf. Sie fängt sich schnell.
„Sí. Für heute Nachmittag möchte ich gerne eine Platte von Lucias Gebäckvariation. Wir erwarten Gäste. Ich komme die Platte zur dritten Stunde abholen. Oh, und leg noch eine Tüte Balas de Cañon dazu, por favor.“
Eifrig notiert Silvio die Bestellung. „Sehr wohl, Señorita. Hasta luego!“

Als es nachmittags an der Tür läutet, eilt Sofía hin um sie zu öffnen. Schon bevor sie die Tür aufzieht, hört sie durch das dicke Holz ein ihr gut bekanntes Lachen; ihr Rücken richtet sich auf und die Schultern gehen unwillkürlich ein Stück zurück. Josephina Castellani steht vor ihr, und sie scheint Eva gerade im Hausflur getroffen zu haben.
„Buenas Días,“ begrüßt Sofía die beiden schüchtern.
„Holá, Sofía. Wie geht es dir?“
Sofías Augen weiten sich. Dass sich Josephina Castellani an ihren Namen erinnert, bedeutet ihr viel, ist sie ihr doch in gewisser Weise eine Art Vorbild. Oder zumindest bewundert sie sie zutiefst. Josephina war es, die sie aus dem Orphinario bei Señora Leonora Castellani auslöste, um ihr diese Anstellung als Hausmädchen zu besorgen.
„Sehr gut, gracias.“
Sie führt die beiden in das geschmackvoll eingerichtete Esszimmer. Freundliche, helle Pastellfarben finden sich in den Wänden, den Möbeln und vielen kleinen Details wieder. Die bodenlangen Fenster zum Balkon sind nur angelehnt, sodass sich die bunt gemusterten Vorhänge in der Frühlingsbrise aufblähen. Vogelgezwitscher klingt von den Efeuranken, die das gesamte Haus und die Balkone umwachsen, hinein - die Casa Panificadora ist ein beliebter Unterschlupf und Nistplatz für allerlei Vögel. Frische Schnittblumen stehen auf dem Esstisch, auf dem sich außerdem noch eine ganze Reihe an kleinen Köstlichkeiten auf bunten Tellerchen und einer kleinen silbernen Etagere stapeln: kleine Gebäckstücke, Pralinen, Cremetörtchen, Windbeutel - die schönste Auswahl, die Lucía zu bieten hat -, Käse, Oliven und allerhand Obst, und natürlich dürfen die Balas de Cañón nicht fehlen. Eine Schale mit Sahne und verschiedene Konfitüren runden das Bild ab.
Die drei setzen sich und das Geschnatter beginnt. Sofía beobachtet die Señorita Castellani aus den Augenwinkeln, während sie in der Küche eine weitere Kanne Tee aufbrüht. Josephina gibt einen guten Schuss aus einer kleinen, fein verzierten silbernen Flasche in ihren Tee und rührt um. Dann nimmt sie sich eine Kanonenkugel, dippt sie in eine kleine Schale mit Himbeerkonfitüre und führt sie zum Mund. Sie öffnet ihn, und gerade, als Sofía schon denkt, sie würde sich das Mohnbällchen ganz undamenhaft in einem Stück in den Mund schieben, dreht sie den Kopf und sieht sie mit strengem Blick an.
„Willst du den ganzen Tag nur starren oder gießt du bald das Teewasser auf?“ fragt sie Sofía, die hastig den Blick senkt und sich vor Hektik fast die Finger verbrüht hätte.
„Sí, Señorita.“
Doch in Josephinas Augen glitzert es spöttisch. „Mach danach mal eine kleine Pause und geh ein bisschen spazieren, das Wetter ist ganz wundervoll heute.“
„Sí, Señorita.“
Und so stellt sie die Teekanne auf den Tisch, verabschiedet sich mit einem höflichen kleinen Knicks von der Damenrunde und verlässt die Wohnung. Noch als sie die Tür hinter sich zuzieht, brandet das Gespräch im Wohnzimmer erneut auf.
„Nun erzähl schon, Leanna! Was ist der wahre Grund für die Verschiebung der Hochzeit?“ lässt sich Josephinas Stimme noch vernehmen, bevor die Tür ins Schloss fällt.

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